Heißt gandhabba „Samen“?
Übersetzung von „Does gandhabba mean ‚semen‘?“ von Bhikkhu Sujato, 2022
Eine Stelle im Palikanon führt den gandhabba ein als etwas, das bei der Empfängnis eines Kindes eine wichtige Rolle spielt. Die Passage kommt im Majjhima zweimal vor (wie auch in verschiedenen Parallelen). Von diesen ist die Quelle in MN 38 Mahātaṇhāsaṅkhayasutta wegen der erweiterten Darstellung sicher zweitrangig, während man die Quelle in MN 93 Assalāyana als das primäre Vorkommen betrachten sollte.
Traditionelle Erklärungen für merkwürdige Vorstellungen blicken typischerweise nach vorne und versuchen, die Sache in den Rahmen der späteren Lehre einzupassen; aus diesem Grund ist MN 38 mit seinem buddhistischen Kontext viel berühmter. Als jemand, der sich mit Geschichte befasst, bin ich nicht so sehr daran interessiert, was Buddhisten in späteren Jahren aus etwas machten, sondern daran, was diese Sache für die ursprünglichen Zuhörer bedeutete. Da die Stelle in MN 93 rein brahmanisch ist – sie findet sich in einem Gespräch nur zwischen Brahmanen, ohne dass Buddhisten überhaupt anwesend sind –, kann man sicher annehmen, dass die Vorstellung ursprünglich eine brahmanische war oder zumindest für eine solche gehalten wurde.
Hier ist die Passage aus MN 93. Sie kommt als Teil eines langen Streitgesprächs über die Kasten vor. Der Vedenstudent Assalāyana erklärt die Vorrangstellung der Brahmanen, und der Buddha hinterfragt die Gründe für seinen Glauben. Der Buddha erzählt dann die Geschichte aus der Vergangenheit, ein Gespräch zwischen „Devala dem Dunklen“ – einem der mysteriösen „dunklen Seher“, die im Palikanon vorkommen – und sieben brahmanischen Eremiten (ein Anklang an die „sieben Seher“ der brahmanischen Überlieferung). Devala provoziert sie, widersteht ihren Flüchen und befragt sie zum Thema Kaste. Sie sagen, sie verstünden, wie ein Embryo empfangen werde:
‚Ein Embryo wird empfangen, wenn diese drei Dinge zusammenkommen: Mutter und Vater kommen zusammen, die Mutter ist in der fruchtbaren Phase ihres Zyklus, und der gandhabba ist anwesend.‘
‚Aber wisst ihr sicher, ob dieser gandhabba ein Adliger, ein Brahmane, ein Landarbeiter oder ein Hilfsarbeiter ist?‘
‚Das wissen wir nicht.‘
Was bedeutete das nun für die Brahmanen? Die Ansicht wird eindeutig so dargestellt, als gehöre sie zu einer alten brahmanischen Überlieferung. Nun, ich bin in diesen Dingen bloß ein Amateur, daher begrüße ich eine Meinung, die von mehr Hintergrundwissen getragen ist. Aber für mich war der faszinierendste Essay darüber Wijesekeras Artikel in seinen erstaunlichen Buddhist and Vedic Studies. Hier ist er, den guten Leuten vom Internet Archive sei Dank!
In diesem Kapitel gibt es so viel großartige mythologische Überlieferung, und ich hasse es, sie zusammenfassen zu müssen. Aber sehr kurz gesagt, weist Wijesekera auf folgende Aspekte des gandhabba (Sanskrit: gandharva) hin:
Sein Ursprung liegt in sehr früher Vergangenheit, möglicherweise vor-indoeuropäisch, und er erscheint früh als ein Ungetüm oder eine Nymphe aus den tiefen Wassern mit goldenen Hufen.
Er bewacht auch die himmlischen Gewässer.
Er ist wahrscheinlich mit dem griechischen kantauros (Zentaur) verwandt und besitzt daher ungezügelte männliche Potenz.
Wijesekera geht darauf nicht näher ein, aber das weckt bei mir die Vorstellung, dass der gandhabba die bestimmende Gottheit der sich herausbildenden Indo-Europäer war, denen die Zähmung des Pferdes beispiellose Macht verlieh. Andere Gottheiten hatten sie möglicherweise mit anderen gemeinsam oder übernahmen sie, aber der gandhabba repräsentierte sie.
Er wird (als ein Wortspiel) mit Geruch in Verbindung gebracht.
Er wird mit Soma in Verbindung gebracht (der Mond / Potenz / göttliche Essenz / Droge), was zumindest bis in indo-iranische Zeit zurückreicht. Im Besonderen mit dem Soma-Saft (rasa (Saft) = retas (Samen); beachte, dass Soma mit dem gleichen Wort sukka bezeichnet wird, das im Palikanon für Samen benutzt wird.)
Soma ist eine lebensspendende Kraft und die Quelle für Indras Energie.
Soma gilt auch als der Atman der Nahrung.
Der Regen, der die Erde belebt, und der Samen, der Schwangerschaft erzeugt, werden zumindest seit vedischer Zeit miteinander assoziiert.
Die hemmungslose Sexualität der gandhabbas stellt eine Gefahr für den Embryo dar, sie werden als „die Haarigen, die Embryonen verschlingen“ beschrieben. (Das gehört zum normalen Erscheinungsbild alter Mythologie: Götter sind nicht gut oder schlecht, sondern mächtig und müssen daher beschwichtigt werden.)
Der gandhabba ist auch die Sonne, besonders in ihrem Aspekt des Einsinkens ins Wasser, eine andere sexuelle Metapher, und ist daher mit Fortpflanzung assoziiert.
Die Lebhaftigkeit des gandhabba führte dazu, dass er mit dem Begehren nach Frauen assoziiert wurde, und später mit der Vorstellung einer „Liebesheirat“.
Er ist somit in der Lage, sowohl Männer als auch Frauen in den Wahnsinn zu treiben.
Und in einigen Fällen ist er sogar ein körperloser Geist, der von Menschen Besitz ergreift.
Nun, wenn all das viel erscheint: Es ist viel. Und es ist nur ein kleiner Teil von dem, was Wijesekera anführt. Die unvereinbare und paradoxe Komplexität der verschiedenen Vorstellungen, aus denen der gandhabba besteht, spricht für seine Herkunft aus der Vorzeit; wir erhalten vielfältige Aspekte, die durch die Zeit gebrochen wurden. Viele dieser Aspekte finden nun ihren Ausdruck im Palikanon. Normalerweise wird der gandhabba natürlich als eine muntere und lebhafte niedere Gottheit betrachtet. Aber hier geht es mir einzig um seine Rolle bei der Fortpflanzung.
Betrachten wir nun einige der alten brahmanischen Theorien zur Wiedergeburt. Es gibt verschiedene nicht immer miteinander zu vereinbarende Berichte, aber ein berühmter findet sich in der Chandogya-Upaniṣhad.
Die grundsätzliche Idee ist, dass die Frau als ein Altar betrachtet wird, auf dem die Götter, indem sie durch den Mann wirken, Samen als Opfer darbringen, woraus der Embryo entsteht. Der Vorgang der Wiedergeburt ist eine lange Wanderung, aber im Wesentlichen werden Seelen auf dem Mond (soma) wiedergeboren, von wo sie herabregnen und in Nahrung wie Reis, Getreide, Kräutern, Bäumen, Sesam und Bohnen wiedergeboren werden (Nahrung ist für die Upaniṣaden eine göttliche Kraft von allerhöchster Wichtigkeit!). Die Chandogya sagt:
Wer immer die Menschen sind, die die Nahrung essen und Nachkommenschaft zeugen, diese wird dann ihnen gleich werden. Die, deren Verhalten gut war, werden bald eine gute Geburt als Brahmane, khattiya oder vessa erlangen. Aber die, deren Verhalten schlecht war, werden eine schlechte Geburt nehmen: ein Hund, ein Schwein oder ein Ausgestoßener.
Wiedergeburt hat eine kosmische und organische Dimension, die im Buddhismus fehlt. Die Kausitiki sagt: „Die Seele wird aus Samen erzeugt.“ Der Atman ist eine komplexe und vielschichtige Vorstellung in den Upaniṣahden, aber es ist entscheidend, zu verstehen, dass es einen wichtigen Strang gibt, der den individuellen Atman als quasi-physisches Gebilde sieht, das durch den Samen in die Mutter verbracht wird. Es versteht sich von selbst, dass die Mutter nur als der Brutapparat für den Embryo betrachtet wird, nicht als Quelle seines Atman.
Kommen wir nun zu der Stelle im Palikanon. Nach meinem Empfinden ist Wijesekeras Diskussion hier weniger angemessen. Er weist ganz zu Recht darauf hin, dass der Vorschlag einiger früherer Wissenschaftler, der gandhabba „stehe“ der Wiedergeburt „vor“, nicht einleuchtend ist. Das entsprechende Verb paccupaṭṭhito hoti hat die Bedeutung „bereitstehen“, d. h. „bereit, zu gehen“.
Aber dann sagt er, der Text sei „unmissverständlich und lässt keinen Zweifel an der wahren Natur des gandhabba, der sich in diesem Zusammenhang sicher auf den ‚Geist‘ eines früher verstorbenen ksatriya, brahmin, vaisya oder sudra beziehen muss“. Dann verweist er auf seine vorhergehende Diskussion in Abschnitt 12.
Ich glaube aber nicht, dass diese Diskussion überhaupt eine so klare Schlussfolgerung begründet. Wijesekera zeigt eine Verbindung zwischen dem gandhabba und der Macht über den Geist, die ich als Bezug auf die Macht des Sexualverlangens verstehe. Die apsaras zum Beispiel gelten als die „Frauen der gandhabbas, die den Geist verwirren“. Dann verweist er auf ein paar Fälle von Besessenheit zur Unterstützung der Vorstellung, dass ein gandhabba ein Geist war, aber das sind bloß gewöhnliche Fälle von Besessenheit durch einen Geist, die nichts mit Fortpflanzung zu tun haben.
All die Hinweise über die kosmischen bzw. organischen Eigenschaften des gandhabba und des Samens, die er so akribisch zusammengetragen hat, lässt er beiseite. Dann stützt er als Nächstes seine Schlussfolgerung mit Bezügen zu späteren buddhistischen Texten. Aber diese sind natürlich bemüht, diese merkwürdige Idee, die auf alle möglichen rätselhaften und unbequemen Vorstellungen anspielt, zu rationalisieren und sie in ihre Lehren einzupassen.
Das größte Einzelproblem mit der späteren buddhistischen Idee, dass gandhabba = Wiedergeburtsbewusstsein sei, ist, dass dann der Mann kaum eine Rolle spielen würde. Tatsächlich hätte bei den drei Faktoren der Mann nichts weiter zu tun, als Geschlechtsverkehr zu haben. Er hätte sonst überhaupt keinen direkten Bezug zur Fortpflanzung. Aber wie wir gesehen haben, ist in der brahmanischen Tradition der „Keim“ im Wesentlichen männlich, und es ist die Frau, die zweitrangig ist.
indriyeṇa te retasā reta ādadhāmīti | garbhiṇy eva bhavati || BrhUp_6,4.11 ||
‚Mit Macht, mit Samen, lege ich Samen in dir ab!‘ So wird sie schwanger. („Durch meine Kraft, durch meinen Saft leg' ich in dich hinein den Saft“; so wird sie schwanger werden, in Deussens Übersetzung; A.d.Ü.)
(https://archive.org/details/sechzigupanishad00deusuoft/page/514/mode/2up?view=theater)
Ich glaube keinen Augenblick, dass die Brahmanen Männern eine so reduzierte Rolle zuordnen würden.
Nein. Der gandhabba ist ein Euphemismus für das göttliche Element der männlichen Potenz, das die vorrangige Kraft der Fortpflanzung ist. Das ist der Samen, der die Atmans derer enthält, die zuvor gestorben sind und die die Pfade des Mondes, des Regens, der Erde und der Feldfrucht gewandert sind, bevor sie von ihm gegessen wurden. Niemand kann die Kaste dieser Atmans kennen, und das ist der Grund, warum die Sache für die brahmanische Kastenlehre so beunruhigend ist.
Somit sollten wir etwa in dieser Art übersetzen:
Ein Embryo wird empfangen, wenn diese drei Dinge zusammenkommen: Mutter und Vater kommen zusammen, die Mutter ist in der fruchtbaren Phase ihres Zyklus, und der virile Geist ist bereit.


