Abhängige Befreiung
Übersetzung von „Dependent Liberation“ von Bhikkhu Brahmāli, 2012
Dieses Werk wurde in deutscher Sprache erstmals 2014 vom Verlag Beyerlein & Steinschulte unter Mithilfe von Horst Neugebauer als Lektor publiziert.
Der Essay ist eine Abschrift eines Vortrags, der am 23. März 2012 in Dhammaloka, Perth, Australien gehalten wurde. Zum Originaltext (PDF zum Herunterladen, 176 kB).
In dieser Ausgabe wurde der Text für die Darstellung im Internet leicht überarbeitet.
Abkürzungen:
AN Aṅguttara-Nikāya
DN Dīgha-Nikāya
MN Majjhima-Nikāya
SN Saṁyutta-Nikāya
Vorwort von Ajahn Brahm
Wenn es kein Selbst gibt, wer meditiert dann, und wer wird erleuchtet?
Die Antwort findet man in solchen Unterweisungen wie dem Upanisā-Sutta, das vom Buddha gelehrt wurde und hier vom Ehrwürdigen Brahmāli erläutert wird.
Das Upanisā-Sutta beschreibt die buddhistische Praxis, mit der Meditation im Zentrum, als einen natürlichen Vorgang, bei dem ein Geisteszustand ein zweites Phänomen verursacht, das wiederum zu einer neuen Erfahrung führt… und das geht so weiter bis zum Ende aller Vorgänge, Nibbāna.
Niemand „macht“ die Meditation. Meditation ist das, was geschieht, wenn der „Macher“ aus dem Weg geht, wobei ein natürlicher Ursache-Wirkungs-Prozess in Gang kommt, der Stufe für Stufe weiterläuft bis zur Erleuchtung.
Viele Teile in dieser Kette geistiger Ereignisse sind angenehme Zustände: Freude (pāmojja), Entzücken (pīti) und Glück (sukha). Dadurch wird hervorgehoben, dass die Meditation – nach den Anleitungen des Buddha, im Gegensatz zu denen mancher späterer buddhistischer Lehrer – ein erfreulicher Vorgang ist, voller Ekstase. Wie könnte man das Leiden besser ein für allemal beenden als mit einer Methode, die von einer Glückseligkeit zur anderen führt!
Niemand wird erleuchtet, genauso wenig wie ein Mangobaum eine süße und köstliche Mangofrucht wird. Erleuchtung ist das Ende eines selbstlosen Prozesses, der vom Buddha in diesem Sutta anschaulich beschrieben wird.
Bring die Lawine tiefer und glückseliger Meditationszustände jetzt ins Rollen! Beende deine Verblendung, indem du dieses Buch liest. Geh aus dem Weg und beobachte, wie der Ursache-Wirkungs-Prozess dich abwickelt!
Mit Mega-Mettā,
Ajahn Brahm
Perth, Dezember 2012
Abhängige Befreiung
Abhängige Befreiung beschreibt die Psychologie der Meditation, das heißt wie der Vorgang der Meditation von Anfang bis Ende erfahren wird.
Abhängige Befreiung steht in einem engen Zusammenhang zu der wohlbekannten buddhistischen Vorstellung des Abhängigen Entstehens. Für diejenigen, die mit den Lehren des Buddha nicht sehr vertraut sind: Unter Abhängigem Entstehen versteht man eine Folge von zwölf Faktoren, die ursächlich miteinander verknüpft sind. Der letzte Faktor dieser Kausalkette ist Leiden. Da es eine Kausalkette ist, zeigt sie uns, wie Leiden entsteht. Der erste der zwölf Faktoren ist Unwissenheit oder Täuschung – die Unfähigkeit, die Welt zu sehen, wie sie tatsächlich ist, wie sie wirklich funktioniert. So führt in der Reihe, beginnend mit Unwissenheit, ein Glied zum nächsten bis hin zum Leiden. Das Abhängige Entstehen zeigt uns somit, dass Leiden eine Folge von Unwissenheit ist.
So erklärt es der Buddha, warum es das Leiden gibt. Aber der Buddha lehrt auch eine ursächlich verknüpfte Folge, die die Befreiung vom Leiden beschreibt. Diese Folge ist das, was man Abhängige Befreiung nennt (SN 12.23). Abhängige Befreiung beginnt mit Leiden – mit anderen Worten, sie beginnt, wo das Abhängige Entstehen endet – und sie zeigt uns durch eine andere Folge von zwölf ursächlich miteinander verbundenen Faktoren, wie wir schließlich Befreiung erlangen können.
Die Aussicht auf ein Ende allen Leidens ist eine außerordentlich positive Botschaft. Manchmal werden Buddhisten als Pessimisten bezeichnet – sie sprechen immer über Leiden – und doch gibt es hier das genaue Gegenteil. Der Buddha sagt, dass wir, ausgehend vom Leiden, den Weg bis zur Freiheit von ebendiesem Leiden gehen können.
Gehen wir jetzt die zwölf Faktoren der Abhängigen Befreiung einmal durch. Der erste Faktor ist Leiden (dukkha). Das bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, dass es Leiden gibt, sondern auch darauf, sich des Problems bewusst zu sein. Nur wenn man versteht, dass es ein Problem gibt, wird man auch etwas dagegen unternehmen. Dazu gehört das Bewusstsein des gewöhnlichen Leidens im täglichen Leben. Wichtiger ist jedoch, den Umfang des Leidens zu sehen. Dieses Verständnis entwickelt sich, wenn sich unsere Meditation vertieft und wir uns und die Welt auf eine neue Art zu sehen beginnen. Aber es ist im Besonderen der Komplex der Wiedergeburt – vor allem wenn man sie selbst direkt sehen kann, – der uns das wahre Ausmaß des Problems verstehen lässt.
Die Lehre des Buddha sagt uns, dass es eine Lösung für dieses Problem gibt. Sobald wir verstehen, dass es ein Problem gibt, und wir erkennen, dass es eine Lehre gibt, die zu einer Lösung führen kann, entsteht Vertrauen oder Glauben (saddhā) in diese Lehre. Das ist der zweite Faktor der Reihe.
Das Bemerkenswerte an der Buddhalehre ist, dass sie uns zeigt, dass sich die Lösung ganz, ganz woanders befindet als da, wo wir sie vermuten. Normalerweise laufen wir in der Welt herum und denken, die Lösung für das Leiden liege in Beziehungen, Freundschaften, materiellen Dingen, Status, gesellschaftlicher Stellung, darin, wohl angesehen zu sein, gelobt zu werden usw. – in der Art von Dingen, die man im Buddhismus als „weltliche Bedingungen“ (lokadhammā; AN 8.6) bezeichnet. Dort sucht man gewöhnlich die Antwort auf das Leiden. Dann kommt der Buddha daher und sagt, dass wir an der falschen Stelle suchen, dass die Antwort woanders liegt.
Das ist sehr stark. Es gibt uns ein Gefühl: Na klar, die Lösung muss woanders liegen, haben wir doch seit ewigen Zeiten versucht, über die weltlichen Dhammas Glück zu finden, und leiden immer noch. Auf eine Art ist das die Tragödie der Menschheit: Wir wollen alle Glück, aber suchen gewöhnlich an der falschen Stelle danach. Stattdessen ernten wir Leiden. Wenn wir verstehen, dass es ein Problem gibt, und wir begegnen einer Lehre, die eine realistisch erscheinende Lösung verspricht, entsteht Vertrauen. Wir erkennen, dass es mit dieser Lehre etwas ganz Besonderes auf sich hat.
Vertrauen ist etwas Schönes. Wir fühlen uns sicher, weil wir eine Lehre haben, die uns die Lösung für die prekäre Lage zeigt, in der wir uns befinden. In den Suttas heißt es, ein Mensch ohne Vertrauen, ohne eine Zuflucht, sei wie jemand, der eine Wüste durchquert. Er wird irgendwann den Kräften der Natur erliegen – der Hitze, dem Wassermangel, allen Schwierigkeiten des Wüstenlebens – es sei denn, er findet einen Weg aus der Wüste. Aber ein Mensch, der Vertrauen hat, ist wie jemand, der die Wüste durchquert hat (MN 39).
Vertrauen in die Lehren des Buddha ist also sehr wichtig. Manche Leute denken zwar, es sei nicht wirklich wichtig, und sie bräuchten nur selbst zu untersuchen, ob etwas wahr ist oder nicht. Natürlich ist das Untersuchen ein wesentlicher Teil der buddhistischen Lehre. Dennoch ist starkes Vertrauen eine Kraft; es ist etwas, das uns auf dem Pfad vorantreibt und in die richtige Richtung gehen lässt. Es ist eine unverzichtbare Qualität für die spirituelle Reise. Außerdem werden all die anderen Faktoren, die danach kommen, ganz natürlich folgen, wenn Vertrauen da ist. Es wird ein Pfad, der sich selbst vervollständigt, da jeder Faktor den nächsten Faktor hervorbringt, Stufe um Stufe, bis zum vollen Erwachen.
Die unmittelbare Folge des Vertrauens ist Freude (pāmojja), der dritte Faktor der Abhängigen Befreiung. Es ist die Freude darüber, etwas wahrhaft Wertvolles gefunden zu haben. Wir haben etwas gefunden, das uns eine tiefe Bedeutung im Leben zeigt, und wir spüren, dass diese Lehren außergewöhnlich sind. Diese Verbindung zwischen Vertrauen und Freude wird an vielen Stellen in den Suttas beschrieben. Einige der wichtigsten Kontemplationen in den Suttas sind zum Beispiel die Betrachtungen über den Buddha, den Dhamma und den Saṅgha. Da diese Betrachtungen auf dem Erkennen des tiefen Wertes der buddhistischen Lehren beruhen, kommt in uns Freude auf. Das wird Atthaveda und Dhammaveda genannt, Begeisterung durch die Bedeutung und Begeisterung durch den Dhamma. Die freudige Begeisterung, die dabei aufkommt, ist das Gleiche wie die Pāmojja, von der wir hier sprechen. Freude kommt also mit der Begeisterung, und die ist wiederum eine Folge von Vertrauen (AN 6.10).
Sobald Pāmojja aufkommt, entfaltet sich der weitere Pfad von selbst. Das liegt daran, dass Freude Achtsamkeit und Energie mit sich bringt. Wenn wir Achtsamkeit und Energie haben und uns zum Meditieren hinsetzen, können wir beim Objekt bleiben und machen stetige Fortschritte. Die Meditation entfaltet sich. Es kann schwierig erscheinen, genau zu bestimmen, warum die Meditation manchmal in Gang kommt und manchmal nicht, aber hier ist der Grund dafür. Sie kommt in Gang, wenn wir die Freude und Begeisterung haben, die zusammen mit Achtsamkeit und Energie auftreten. Der Rest des Pfades nach der Freude ist zum großen Teil ein automatischer Vorgang. Es ist ein Meditationsprozess, der uns Stufe um Stufe bis zum Erwachen führt. Das ist der Kern der kausalen Abfolge der Abhängigen Befreiung.
Wie funktioniert nun dieser Ablauf? Du setzt dich hin, beobachtest den Atem, und es ist so einfach. Wenn die Meditation sich entwickelt, beginnt sich Verzückung oder Freude (pīti) in dir zu erheben. Das ist der vierte Faktor in der Reihe. Wenn die Meditation weiter fortschreitet, wird sich die Pīti langsam beruhigen, und es stellt sich ein Gefühl von Ruhe (passaddhi) ein, der fünfte Faktor. Diese Ruhe entwickelt sich dann weiter zu einem tiefen Gefühl von Zufriedenheit und Glück (sukha), Faktor sechs. Dies wiederum führt zum Einswerden des Geistes (samādhi), dem Faktor sieben, womit die Meditation wirklich kraftvoll wird. Wenn der Geist aus einem tiefen Samādhi herauskommt, erkennen und sehen wir die Realität, wie sie wirklich ist (yathā-bhūta-ñāṇa-dassana). Das ist der Faktor acht in der Reihe. Weil Samādhi die Hindernisse überwindet – die geistigen Verunreinigungen, die uns daran hindern, die Dinge richtig zu sehen – sehen wir jetzt die Dinge zum ersten Mal klar.
Wenn wir die Dinge richtig sehen, sehen wir, wie das Leiden untrennbar mit der Existenz verbunden ist. Wir wollen die ganze Welt zurückweisen (nibbidā). Das ist der Faktor neun. Wir verstehen, dass wir aus dem Rad von Saṁsāra heraus müssen. Nibbidā führt zu Leidenschaftslosigkeit (virāga), dem Faktor zehn. Virāga ist das Enden des Begehrens, das Gegenteil von Leidenschaft für die Welt. Und wenn diese Leidenschaft verschwindet, sind wir frei (vimutti), das ist Faktor elf. Wenn wir frei sind, haben wir auch die Erkenntnis, frei zu sein (khaye ñāṇaṁ). Das ist der zwölfte und letzte Faktor in der Reihe der Abhängigen Befreiung. So führt also Leiden selbst zur Befreiung.
Um ein tieferes Verständnis der Abhängigen Befreiung zu bekommen, möchte ich jetzt den Anfang der Reihe aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachten. Ich möchte den Blick auf die ersten paar Schritte der Reihe lenken, weil diese wirklich wichtig sind, um richtig zu beginnen. Wenn wir die ersten paar Schritte richtig hinbekommen, wird die restliche Reihe auf natürliche Weise folgen.
Diese tiefere Perspektive können wir gewinnen, wenn wir eine verbreitete Variante der Abhängigen Befreiung betrachten, wie sie in einigen Suttas zu finden ist (z. B. AN 11.3). Diese Variante beginnt anstatt mit Leiden und Vertrauen mit Tugend. Tugend erzeugt das Freisein von Reue oder Bedauern (avippaṭisāra), und das wiederum erzeugt Freude, Pāmojja. Die restliche Abfolge ist im wesentlichen so wie oben erklärt.
Wie funktioniert dies nun? Die Freude, die aus Tugend hervorgeht, ist von spiritueller Natur und hat nichts mit Sinnesvergnügen zu tun. Es ist die Freude darüber, ein gutes Herz zu haben. Solche Freude ist immer mit Achtsamkeit und Energie verbunden. Wenn wir froh sind, hat unser Geist eine natürliche Energie, eine Energie, die aus einem guten und positiven Gefühl kommt. Und wir sind achtsam, weil spirituelle Freude den gegenwärtigen Moment angenehm macht.
In den Suttas sehen wir immer wieder, dass die Meditation mit Achtsamkeit beginnt. Wenn wir lesen, was der Buddha im Ānāpānasati-Sutta (MN 118) über die Atembetrachtung sagt, wenn wir lesen, was er im Satipaṭṭhānasutta (MN 10) über die vier Brennpunkte der Achtsamkeit sagt, dann verstehen wir, dass Achtsamkeit eine notwendige Bedingung für die Meditation ist. Wenn wir keine Achtsamkeit haben, können wir nicht richtig meditieren. Es ist so wichtig, das zu verstehen. Unzureichende Achtsamkeit ist der Hauptgrund dafür, dass die meisten Menschen keine tiefen Meditationsstadien erreichen.
Weil Achtsamkeit so wichtig ist, müssen wir lernen, ihre Stärke einzuschätzen und zu wissen, ob wir genug Klarheit zum Meditieren haben. Frag dich: „Bin ich wirklich achtsam? Bin ich gegenwärtig? Wandert mein Geist überall herum? Bin ich verwirrt? Bin ich mir klar über das, was vorgeht?“ Wenn unser Geist ziemlich friedlich ist und wir ein Gefühl von Klarheit in uns haben – es kann immer noch ein bisschen Denken da sein, aber nicht zu viel – dann ist das der Moment, in dem Meditation wirklich erfolgreich sein kann.
Weil es keine wirkliche Meditation ohne Achtsamkeit gibt, weil sie eine Grundlage ist, die wir fest etablieren müssen, müssen wir uns klar darüber werden, wie wir diese Achtsamkeit entwickeln. Achtsamkeit ist seit einigen Jahren ein Modethema in der westlichen Psychologie. Typischerweise dreht sich dabei die Diskussion darum, wie Achtsamkeit uns helfen kann, unsere Probleme zu lösen, welche Qualitäten sie besitzt, wie sie wissenschaftlich gemessen werden kann usw. All dies ist sicherlich wichtig und nützlich. Aber was dabei gewöhnlich fehlt, ist eine sinnvolle Diskussion über die Herkunft der Achtsamkeit. Die Ursachen der Achtsamkeit zu verstehen heißt zu verstehen, wie man achtsam wird.
Die Leute denken oft, dass Achtsamkeit entsteht, wenn man nur genug Willenskraft aufwendet, wenn man sich nur genug anstrengt. Aber wenn unser Geist von Trübungen befallen ist, können wir uns anstrengen, soviel wir wollen, und es wird keine Achtsamkeit aufkommen. Achtsamkeit bedeutet nicht einfach nur, still zu sein oder sich anzustrengen – das genügt nicht. Wir müssen den Geist vorbereiten, damit Achtsamkeit möglich wird.
Was ist also die Ursache für Achtsamkeit? In der vorliegenden Variante der Abhängigen Befreiung ist der Faktor vor Pāmojja – die, wie gesagt, mit Achtsamkeit einhergeht – das Freisein von Reue. Dieses geht seinerseits aus der Tugend hervor – aus moralischem Verhalten, aus Freundlichkeit, aus einem guten Herzen. In diesem Zusammenhang bedeutet Reue nicht einfach, dass man sich schlecht fühlt, weil man etwas Unmoralisches getan hat. Sie schließt jede Art von schädlichem Einfluss unseres Verhaltens auf den Geist ein. Wenn der Geist müde, stumpf, ruhelos, negativ oder wie auch immer ist, so ist das oft das Ergebnis eines Verhaltens, das nicht rein genug war. Reue schließt hier also jedes Hindernis ein, das uns davon abhält, die Freude, den natürlichen Frohsinn zu spüren, der sonst im Geist gegenwärtig ist. Das soll heißen, dass die Ursache für Achtsamkeit Tugend ist, und dass ohne Tugend die Achtsamkeit zu schwach für die Meditation sein wird. Wenn also unsere Meditation nicht in Gang kommen will oder keine rechten Fortschritte macht, sollten wir prüfen, was wir tun können, um unsere Tugend zu verbessern.
In der Buddhalehre ist der Begriff der Tugend sehr weitgefasst. Sie schließt natürlich die Tugend des Rechten Handelns ein – freundlich sein, schlechte Taten vermeiden. Sie schließt auch die Tugend der guten Rede ein – freundliche Dinge sagen, nichts Schlechtes sagen. Für die meisten Menschen gibt es allein in diesen Bereichen eine Menge zu tun. Ein wichtiger Punkt, den man dabei im Sinn behalten muss, ist, dass Tugend nicht nur bedeutet, das Schlechte zu vermeiden, sondern auch, Gutes zu tun. Tue also Gutes in deinem Leben, sage freundliche Dinge, mache kleine freundliche Sachen. Wenn wir das tun, bauen wir einen schönen Geist auf. Das wird unsere Meditation kräftig unterstützen.
Aber damit die Achtsamkeit fest etabliert wird, reicht die Tugend der körperlichen und sprachlichen Handlungen nicht aus. Wir benötigen auch die Tugend des Geistes. Anfangs, wenn wir die Tugend des Handelns und der Rede durch Zurückhaltung üben, ist der Geist noch unrein. Um dieser Unreinheit zu begegnen, müssen wir mit unserem Geist so arbeiten, dass wir unsere Art zu denken verändern. Manche Menschen denken, das sei schwierig, aber mit genügend Hingabe und Beharrlichkeit kann es jeder tun. Und es ist notwendig, wenn sich unsere Meditation entwickeln soll.
Die wichtigste geistige Trübung, die es zu überwinden gilt, ist Ärger in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, einschließlich Gereiztheit und Unmut (AN 3.68). Ärger ist eine geistige Qualität, die eine Menge Leiden für uns und auch für die Menschen um uns herum verursacht. Wenn wir den spirituellen Pfad ernst nehmen, so ist das ein Bereich, auf den wir wirklich unser Augenmerk richten müssen. Um Ärger zu überwinden, müssen wir uns fragen, wie wir die Welt um uns herum anders betrachten können. Können wir sie so betrachten, dass diese negativen Zustände nicht aufkommen? Wenn wir Anstrengungen machen für solche Betrachtungen, werden wir feststellen, dass wir uns mit der Zeit allmählich verändern – wir fangen an, Dinge auf neue Art zu sehen; wir fangen an, die Welt mit mehr Mitgefühl und Freundlichkeit zu sehen. In dem Maß wie unser Ärger, Unmut und unsere Gereiztheit abnehmen, können wir innerlich fühlen, dass wir ein besserer Mensch werden, ein reinerer Mensch. Was für eine wunderbare Sache, wenn wir das in uns beobachten. Allmählich verändern wir uns; wir verwandeln uns in eine neue Art von Mensch.
Die Leute denken oft, Willenskraft wäre der Weg, um mit schädlichen Geisteszuständen umzugehen. Sie denken, sie könnten sich zwingen, freundlich zu sein, sie könnten den Ärger zermalmen, den Unmut zermalmen. Und manchmal scheint es auch so, wenn wir die Suttas lesen. Wir lesen, wir sollen die negativen Geisteszustände „auslöschen“, sollen sie „hinwegtun“, sie „vernichten“. Das verwendete Vokabular kann sehr kräftig sein, und man könnte leicht meinen, dass hier von Willenskraft die Rede ist. Aber was der Buddha wirklich sagt, ist, dass man negative Zustände am besten mit Weisheit überwinden kann (MN 19).
Weisheit zu gebrauchen, heißt, sich zu fragen, wohin Ärger führt. Wenn man darüber nachdenkt, wird man finden, dass er immer zu Leiden führt, zu eigenem und dem anderer (MN 19). Er führt zu eigenem Leiden, weil Ärger im Vergleich zu einem friedlichen Geisteszustand schmerzhaft ist. Er führt zum Leiden anderer, weil wir dazu neigen, aus Ärger auf eine Art zu handeln, die andere verletzt. Außerdem erzeugen wir schlechtes Kamma, wenn wir ärgerlich sind, besonders, wenn wir den Ärger ausagieren. Wir schaffen uns Unglück sowohl hier und jetzt als auch für künftige Leben. Diese ganze Kettenreaktion unangenehmer und schmerzhafter Folgen kommt also von dieser negativen Qualität. Bringen wir uns das in Erinnerung. Denken wir regelmäßig darüber nach. Ärger, Unmut, anderen schaden – das ist gefährliches Gelände; es führt wirklich zu Leiden für uns und für die Menschen um uns herum. Je stärker wir wahrnehmen können, dass dies ein echtes Problem ist, umso mehr werden wir fähig sein, uns davon abzuwenden.
Wenn die Wahrnehmung der mit Ärger verbundenen Gefahr stark und klar wird, wird sie ein mächtiges Werkzeug, das wir für die Entwicklung unseres Geistes nutzen können. Wenn ein ärgerlicher Gedanke aufkommen will, brauchen wir nur die Wahrnehmung der Gefahr aufzurufen, und schon verschwindet der Gedanke. Die Weisheit erledigt das für uns. Aber denken wir daran, dass es viel Arbeit erfordert, diese Weisheit aufzubauen, wie die meisten Dinge auf dem spirituellen Pfad. Es ist an sich nicht schwierig, aber es erfordert Entschlossenheit und Ausdauer. Allmählich werden wir die Gefahr im Ärger mit immer größerer Klarheit sehen. Je besser wir sie verstehen, umso besser werden wir Ärger überwinden können, sobald er entsteht. Das ist der Grund, warum der Buddha Worte gebraucht wie „auslöschen“, „hinwegtun“ und „vernichten“, wenn er die Überwindung dieser Gedanken beschreibt. Die Worte beziehen sich nicht auf den Gebrauch von Willenskraft, sondern auf ein viel mächtigeres Werkzeug, das Werkzeug der Weisheit. Wenn Weisheit gut entwickelt ist, schneidet sie diese Dinge ab – es ist, als würde sie die negativen Geisteszustände auslöschen. Sie verschwinden einfach gleich wieder. Denken wir also weiterhin über die Gefahr im Ärger in all seinen Erscheinungsformen nach. Irgendwann haben wir ein sehr nützliches Werkzeug für unsere spirituelle Praxis.
Eine andere negative Folge des Ärgers ist, dass er Weisheit zerstört (MN 19). Weisheit ist die wichtigste der spirituellen Qualitäten. Durch Weisheit verstehen wir den Unterschied zwischen Glück und Leiden, und, wichtiger noch, den Unterschied zwischen dem, was Leiden verursacht und was Glück verursacht. Es ist die Weisheit, die die Probleme unseres Lebens löst.
Der Buddha sagt, dass Weisheit infolge unheilsamer Geisteszustände erlischt (paññānirodhika; MN 19). Angesichts der Bedeutung der Weisheit, ist das nicht Grund genug, die unheilsamen Zustände wegzuschaffen, sie hinwegzutun? Vergleichen wir unseren Geist, wenn wir ärgerlich sind, mit dem Zustand, wenn wir es nicht sind. Betrachten wir den Unterschied. Wir werden feststellen, dass wir die Welt nicht klar sehen können, wenn wir ärgerlich sind. Wir verstehen nicht, was richtig und was falsch ist – alles wird durch den Ärger auf den Kopf gestellt, verzerrt. Schau, wie er die Weisheit zerstört. Das ist eine machtvolle Betrachtung.
Eine andere Betrachtung, die der Buddha empfiehlt, ist, sich anzuschauen, wie Ärger den Geist verletzt (MN 19). Betrachte, wie dein Geist sich anfühlt, wenn du ärgerlich bist, und vergleiche das mit dem Gefühl, wenn du wahrhaft friedlich bist. Der Unterschied ist gewaltig! Wir brennen innerlich, wenn wir ärgerlich sind. Warum sollten wir ärgerlich sein wollen, wenn es die Möglichkeit gibt, nicht ärgerlich zu sein?
Solche Betrachtungen gehören zu den kraftvollsten Aspekten des Dhamma, und sie sind der wirksamste Weg zur Überwindung der unheilsamen Geisteszustände. Wenn wir unsere Denkmuster verändern wollen, ist Weisheit der Weg, nicht Willenskraft.
In dem Maß wie wir mit der Zeit eine neue Anschauung entwickeln, werden wir feststellen, dass unsere Trübungen abnehmen, dass die Probleme im Leben weniger werden, und dass die Pāmojja – die Freude – im Geist allmählich zunimmt. Die Freude kommt von Reinheit, von der Tatsache, dass wir ein besserer Mensch werden. Und im gleichen Maß wie die Pāmojja stärker wird, wird es auch die Achtsamkeit. Es sind die Trübungen des Geistes, die die Achtsamkeit daran hindern, eine wirkliche spirituelle Kraft zu werden. In dem Maß wie diese Trübungen abnehmen, wird Achtsamkeit stärker. Wenn wir die Hindernisse durch unsere tägliche Praxis reduzieren können, werden wir sehen, dass wir jedes Mal, wenn wir zu einem Retreat gehen, Dinge beobachten können, die uns vorher nicht aufgefallen sind.
Wenn wir ohne ausreichende Achtsamkeit den Atem beobachten, neigt der Geist dazu, überall herumzuwandern. Wir können nicht wirklich über den Geist verfügen – stattdessen werden wir von den Trübungen umhergetrieben. Aber sobald Achtsamkeit da ist, haben wir das Gefühl, tatsächlich über uns verfügen zu können. Und wegen dieses Gefühls sind wir in der Lage, unsere Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten, oder worauf sonst wir uns einstellen möchten. Richtig entwickelte Achtsamkeit ist eine Kraft, und so wird es in den Suttas beschrieben (SN 50.1). Darum ist Achtsamkeit so wichtig.
Weil Achtsamkeit aus Tugend entsteht, besonders aus geistiger Tugend, ist es wichtig Anstrengungen zu machen, um die negativen Tendenzen im Geist zu überwinden. Manchmal ist das harte Arbeit, denn unsere Neigungen und Gewohnheiten sitzen gewöhnlich tief. Entschlossenheit und Ausdauer sind nötig, um die Art zu verändern, wie wir Dinge betrachten und tun. Aber allmählich, über Monate oder Jahre, sehen wir, wie Veränderungen in uns vor sich gehen. In dem Maß wie wir uns verändern, wird unsere Meditation ruhiger und tiefer. Wie wunderbar ist es, wenn die Meditation in Gang kommt, wenn wir beim Objekt bleiben können und richtigen Fortschritt erfahren. Wenn wir über diese Kraft der Achtsamkeit verfügen, einschließlich der Freude im Geist, brauchen wir uns nur hinzusetzen, den Atem zu betrachten, und die Meditation geschieht von ganz alleine.
Wenn Meditation von alleine geschieht, ist keine Kraft erforderlich. Alles, was wir tun müssen, ist, uns zurücklehnen, gewahr sein und den Atem beobachten. Weil wir Achtsamkeit haben, geht das Beobachten natürlich und leicht vonstatten, ohne Willenskraft. Die Minuten verstreichen und die Meditation wird immer kraftvoller, immer tiefer. Wir brauchen nur da zu sein.
An einem bestimmten Punkt in diesem Ablauf beginnt Pīti, Verzückung, aufzukommen. Pīti ist ein Gefühl von Freude, oft mit einer starken physischen Komponente. Sie kann in Form von Wellen von Freude erfahren werden, die durch den Körper fließen. Sie ist einfach eine Verstärkung der Freude, die wir vorher schon hatten. Was wir hier erfahren, ist der Beginn der rein geistigen Freude, des spirituellen Glücks. Nach der Meditation lohnt es sich, über die Qualitäten dieses Gefühls nachzudenken und darüber, wie es sich von Sinnesvergnügen unterscheidet. Wir werden feststellen, dass Pīti das Ergebnis eines reinen Geistes ist, im Besonderen der Abwesenheit von Ärger und starkem Begehren. Diese Reinheit ist eine Folge unserer vorausgehenden Tugendpraxis. Wir wissen intuitiv, dass dies ein heilsames Gefühl ist – und gleichzeitig fühlt es sich sehr gut an. Wir wissen, dass wir auf dem richtigen Wege sind, und dass wir das weiterentwickeln sollten.
Wir beobachten also weiter den Atem. Allmählich beginnt sich die „aufregende“ Seite von Pīti zu beruhigen, und wir erfahren ein tieferes Gefühl von Ruhe, Passaddhi. Wenn die Ruhe tiefer wird, erfahren wir ein tiefes und friedliches Glücksgefühl, Sukha. Mit jedem Schritt wird die Meditation schöner und kraftvoller. An diesem Punkt fühlen wir uns so zufrieden, dass der Geist nirgendwo anders hingehen will. Das ist der Beginn von Samādhi. Und das geschieht wieder von ganz alleine. Wir lehnen uns nur zurück und schauen zu, wie der ganze Vorgang sich entfaltet.
Samādhi ist die Einheit des Geistes, das heißt sich mühelos auf ein Objekt einstellen, ob es der Atem ist, das Licht im Geist oder was auch immer. An diesem Punkt ist der Geist sehr stetig; er bleibt ohne Schwanken bei seinem Objekt. Wir erlauben dem Samādhi, sich zu entwickeln, bis die fünf Hindernisse völlig aufgehoben sind und der Geist strahlend und ohne Ablenkung ist. Dieser Vorgang gipfelt im Erreichen der Jhānas.
Wenn wir aus dem Samādhi herauskommen, ist unser Geist rein und kraftvoll. Aufgrund dieser Reinheit wissen und sehen wir der Wirklichkeit gemäß, Yathā-bhūta-ñāṇadassana. Die Dinge sehen, wie sie wirklich sind, ist nur nach Samādhi möglich, denn nur mit Hilfe des Samādhi werden die Hindernisse – die Trübungen, die unsere geistigen Vorgänge verzerren – völlig überwunden. Ja, nur in den Jhānas ist die Aufhebung der Hindernisse stabil (MN 68). Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Jhānas das Sehen der Dinge, wie sie wirklich sind, so begünstigen.
Wie anfangs erwähnt, besteht die Wurzel des Leidens in unserem Missverstehen, wie die Welt tatsächlich funktioniert. Wir sehen Glück, wo Leiden ist. Wir sehen ein Selbst, wo kein solches ist. Wir denken, die Dinge dauern an, wenn sie jederzeit verschwinden können. Indem wir die Dinge sehen, wie sie wirklich sind, stellen wir diese verzerrte Anschauung richtig, die Täuschung oder Unwissenheit, die Grundursache des Problems.
Indem wir durch tiefen Samādhi die Hindernisse überwinden, wird die Unwissenheit geschwächt und untergraben. Weil Unwissenheit der erste Faktor des Abhängigen Entstehens ist, wird jeder folgende Faktor, einschließlich des Leidens, von der Stärke unserer Täuschung beeinflusst. Das bedeutet, je schwächer die Unwissenheit ist, umso weniger kommt es zu Leiden, sowohl jetzt als auch in Zukunft.
Die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist, und den vollen Umfang des Leidens in der Welt zu verstehen, wie tief es reicht, ist ein unglaublicher Augenöffner. Der Buddha sagt, das sei, als wäre man in einer Schale eingeschlossen gewesen, und plötzlich bräche die Schale auf, und wir sähen die Welt zum ersten Mal (MN 53). Es ist, als seien wir von Dunkelheit umhüllt gewesen, und plötzlich schaltete jemand das Licht an (MN 36).
Den Dhamma vollständig zu sehen, eröffnet uns einen völlig neuen Blick auf das Leben. Weil wir die volle Tragweite des Problems sehen, begreifen wir, dass es innerhalb der weltlichen Existenz kein Entkommen vom Leiden gibt, und wir weisen das Ganze zurück. Das ist Nibbidā, das Abgestoßen sein, das Abweisen von allem, weil wir sehen, wie tief das Leiden reicht.
Wenn uns alles abstößt, gibt es nichts, was wir ergreifen könnten, und Begehren wird unmöglich. Das ist Leidenschaftslosigkeit, Virāga. Weil alles Leiden ist, lassen wir los, und wir können nie wieder irgendetwas begehren. Wenn wir begreifen, dass die Suche nach Glück vergeblich ist, kommt Begehren zu einem endgültigen Ende. Das ist Befreiung, Vimutti. Wir sind endlich frei, frei von allen Problemen der Existenz. Und das Wissen, dass wir frei sind, geht uns auf. Wir haben das größtmögliche Glück erreicht. Das ist es, was der Pfad des Buddha uns verspricht.
Das ist sehr tiefgründig. Obwohl es schwer sein mag, einen Zugang zu diesen Lehren zu finden, glaube ich, dass es wichtig ist, die ganze Landkarte zu kennen, zu wissen, worauf alles hinausläuft, einen Blick auf die tiefgründigeren Aspekte der Buddhalehre zu erhaschen. Meiner Erfahrung nach ist ein solcher Blick förderlich und ein Ansporn für die Praxis.
Aber von einem praktischen Gesichtspunkt aus ist der vielleicht wichtigste Aspekt der Abhängigen Befreiung, dass sie uns zeigt, dass der Erfolg auf dem Pfad des Buddha, der Erfolg in der Meditation, von der Reinheit unseres Verhaltens abhängt, insbesondere von unserer geistigen Reinheit. Nur wenn es uns gelingt, die Trübungen des Geistes zu verringern, vor allem Ärger und Unmut und die gröberen Arten des Verlangens, wird unsere Meditation schließlich in Fahrt kommen. Es ist ein allmählicher Prozess, und jeder Schritt auf dem Pfad trägt seine Früchte. Wenn wir wirkliches Glück und wahre Zufriedenheit wollen, ist das der einzige Weg.


