Das Vijayasutta, der „Sieg über das Sehnen nach dem Körper“
Übersetzung von „Snp 1.11 Vijayasutta, ‚Victory Over Desire for the Body‘“ von Bhikkhu Sujato, 2022
Obwohl sie durch zwei Suttas getrennt sind, kann das Vijayasutta (Snp 1.11) zusammen mit dem Mettāsutta als Paar angesehen werden, da jenes die Meditation über Liebe lehrt, die den Hass überwindet, während dieses die Meditation über die Körperteile lehrt, die das Verlangen überwindet (Strophe 11, kāye chandaṁ virājaye). Mir ist aufgefallen, dass das Mettāsutta anscheinend eine Meditationsanleitung für jemanden ist, der die Texte bereits studiert hat, und das Vijayasutta formuliert das ganz ausdrücklich und sagt, die Übung sei für einen weisen Mönch, der „die Worte des Buddha gelernt“ hat (sutvāna buddhavacanaṁ).
Seltsamerweise gibt es weder im Sutta noch in seinem Kommentar eine Erklärung für den Titel vijaya („Sieg“). Der Kommentar nennt einen alternativen Titel, kāyavicchandanikasutta, und ich habe das in meine Übersetzung aufgenommen, da es die Bedeutung klar macht.
Die Meditation über den Körper ist in den Suttas häufig zu finden, und hier wird sie in poetischer Form ausgedrückt. Tatsächlich scheint es, das Gedicht wurde erstellt, um eine poetische Quelle für die Körperbetrachtung zur Verfügung zu stellen, die die entsprechenden Lehren aus dem Satipaṭṭhānasutta (MN 10) zusammenfasst.
Das Satipaṭṭhānasutta beginnt seine Aufzählung der Körperbetrachtungen mit der Achtsamkeit auf den Atem und setzt sie dann mit einer Reihe von Meditationen fort. Das Gedicht gliedert sich ganz natürlich in vier Teile, von denen jeder einem Abschnitt der Körperbetrachtung entspricht; die Abschnitte über die Achtsamkeit auf den Atem und die Betrachtung der Elemente sind dabei ausgelassen.
Strophe 1 ist die Betrachtung der Körperhaltungen, die dem zweiten und dritten Abschnitt der Körperbetrachtung im Satipaṭṭhānasutta entspricht.
Die Strophen 2–7 legen die verschiedenen Körperteile zur Betrachtung dar und entsprechen dem vierten Abschnitt der Körperbetrachtung. Man findet den bemerkenswerten Zusatz des „hohlen Kopfes, der mit Hirnmasse gefüllt ist“, der in MN 10 fehlt, aber in späteren Texten zu finden ist (Kp 3:1.1, Mil 3.1.1:3.40, Ps 1.1, Ne 17; [die letzten beiden liegen nicht in deutscher Übersetzung vor, A.d.Ü.]).
Die Strophen 8–9 beschreiben den verwesenden Körper auf dem Leichenfeld wie im sechsten Abschnitt der Körperbetrachtung.
Die Strophen 10–14 beschreiben die Natur der Meditation selbst und ihren Nutzen und entsprechen somit den Refrains im Satipaṭṭhānasutta, die davon sprechen, dass man seinen eigenen Körper mit der Leiche vergleicht, indem man die Betrachtung innerlich und äußerlich anstellt, und das zum Zweck der Weisheit klar sieht.
Diese Parallelen ziehen sich zu sehr durch, um ein Zufall zu sein. Die Abschnitte über die Körperbetrachtung im Satipaṭṭhānasutta variieren allerdings stark in verschiedenen Versionen dieses Textes. Die genauen Einzelheiten scheinen noch bis zu einem späten Zeitpunkt für die Interpretation offen gewesen zu sein, weshalb ich dieses Sutta als einen der spätesten Prosatexte im Kanon betrachte. Es ist möglich, dass das Vijayasutta mehr oder weniger auf der Grundlage des Satipaṭṭhānasutta, wie wir es heute haben, entstanden ist, mit dem Zusatz des „Hirns“. Wenn das so wäre, muss der Text einer der letzten sein, die ins Suttanipāta aufgenommen wurden. Jayawickrama betrachtet ihn in der Tat als einen der spätesten Texte im Suttanipāta, obwohl er keine Gründe für diese Ansicht angibt.
Es erscheint wahrscheinlich, dass dieses Gedicht verfasst wurde, um sicherzustellen, dass Studierende des Suttanipāta angemessene Anleitungen zu dieser wichtigen Form der Meditation hatten. Diese These wird, wenn auch indirekt, von der Tatsache gestützt, dass wir in der letzten Strophe eine Betonung darauf finden, die Einbildung zu überwinden, was im Satipaṭṭhānasutta nicht erwähnt ist, was aber ein Hauptthema in den alten Teilen des Suttanipāta ist.
Der Text bezieht sich auf die „neun Ströme“ von Flüssigkeit, die aus dem Körper fließen. Diese Vorstellung findet sich ein paar Mal im Theragāthā (Thag 4.4:1.3, Thag 19.1:44.4, Thag 20.1:6.3). Dort wird die Meditation über den Körper in einer nachdenkenden Weise dargestellt, als persönliche Antwort auf die Meditation. Die Körperteile werden nicht aufgezählt, daher klingen die Gedichte im Unterschied zum Vijayasutta nicht wie eine Meditationsanleitung.
Die Strophen 2–7, der zweite der oben genannten Abschnitte, finden sich im Nigrodhamigajātaka (Ja 12), und zwar nicht im kanonischen Versteil, sondern im Kommentar. Dort werden sie als Teil einer Reihe von Strophen zitiert, die von der zutiefst spirituellen Frau eines Kaufmanns gesprochen werden, die die Erwartung ihres Mannes, sich für ein Fest prachtvoll zu kleiden, verschmäht. Das zeigt, dass diese Reihe von Strophen mit einer gewissen Unabhängigkeit zirkuliert sein muss. Vielleicht war sie der Kern, um den sich das ganze Sutta geformt hat.
Bemerkenswert in dieser Geschichte ist, dass die Frau selbst die Sprecherin ist; anders als im Kommentar zum Vijayasutta, wo die Körper von Frauen der Gegenstand des Verlangens sowohl für die Frauen selbst sind als auch für die Männer, die sie sehen. Das Sutta selbst vermeidet, wie üblich in den frühen Texten, speziell jede geschlechtsbezogene Beschreibung des Körpers. Die Betrachtung macht Frauenkörper nicht zu Objekten, noch Körper von Personen überhaupt, sondern richtet sich nach innen auf den eigenen Körper und löscht so die Unterscheidung zwischen innen und außen, zwischen „mein“ und „dein“, aus.


