Der schlaue Hirsch (Teenager) in den Jatakas 15 und 16
Übersetzung von „The tricksy deer/teen of Jatakas 15 and 16“ von Bhikkhu Sujato, 2024

Während ich meinen Spaziergang durch die Jātakasammlung fortsetze, finde ich hier und da interessante Dinge. Wir wissen, dass Strophen und Geschichten zusammengehören, und die Strophen sind oft ohne die Geschichte kaum zu verstehen. Doch das heißt nicht, dass die Strophen immer mit dieser Geschichte verknüpft waren. Tatsächlich ist es sicher so, dass die Geschichten sich entwickeln und verändern.
Im Fall von Ja 15 und Ja 16 haben wir ein Strophenpaar, das zusammengehört, aber die einzelnen Strophen wurden als etwas je Eigenes behandelt, mit Geschichten, die, wenngleich ähnlich, doch voneinander unabhängig sind. In diesem Fall ist der Einfluss der Geschichten so, dass die Bedeutung der Strophen, so glaube ich, stark verzerrt wurde und im Kommentar und den Übersetzungen verloren ging. Wir wollen sie durchgehen und sie als Strophenpaar wiederherstellen, das eine einzige Geschichte erzählt.
Zu den Geschichten (in Dutoits Übersetzung):
https://palikanon.com/khuddaka/jataka/j015.htm
https://palikanon.com/khuddaka/jataka/j016.htm
Zu Text und Kommentar (englisch):
https://ancient-buddhist-texts.net/Texts-and-Translations/Jatakagathavannana/015.htm
https://ancient-buddhist-texts.net/Texts-and-Translations/Jatakagathavannana/016.htm
Und hier ist die Übersetzung in Anandajotis überarbeiteter Fassung, die sich am Kommentar orientiert (hier von mir ins Deutsche übertragen; A.d.Ü.). Die Strophen betreffen einen Hirsch, der in den Künsten der Täuschung geschult werden soll, durch die Hirsche ihre Sicherheit gewährleisten. Der Kommentar versteht beide Strophen als vom Bodhisatta gesprochen.
Der Hirsch hat acht Hufe, Kharādiyā, und ein sehr krummes Geweih, ich werde es nicht unternehmen, ihn mehr als siebenmal zu unterweisen. Der Hirsch in drei Stellungen mit vielen Tricks gebraucht acht Hufe und trinkt um Mitternacht, atmet nur durch ein Nasenloch zur Erde, so schlägt (mein) Neffe (den Jäger) auf sechs Arten.
Seltenes Vokabular
Ein offensichtliches Merkmal ist das Maß an ungewöhnlichem oder einzigartigem Vokabular, zumindest:
aṭṭhakkhuraṁ = „acht-hufig“, kommt nur in diesen beiden Strophen vor.
kharādiye = augenscheinlich der Name der Schwester des Bodhisatta (im Vokativ); das findet sich nirgends sonst. Ich erläutere meine Interpretation weiter unten.
vaṅkātivaṅkinaṁ = „listiger als der Listige“.
tipallattha = „dreifacher Zusammenbruch“, die drei Stellungen, in die der Hirsch sich hinwirft, um sich tot zu stellen. In dieser Bedeutung nirgendwo sonst zu finden.
aḍḍharattāpapāyiṁ = „Trinker um Mitternacht“, ein anderer einzigartiger Ausdruck.
kalāhi = „Tricks“ (Instrumental Plural); das Wort kalā bedeutet normalerweise „Bruchteil“. Es ist im Sanskrit bezeugt, aber nicht in dieser Bedeutung im Pali, soweit ich weiß.
atibhoti = „übertrifft, überwindet“, ein recht häufiges Wort, aber nicht in dieser speziellen Form.
Das ist eine Menge. Es sagt uns, dass der Dichter sein Vergnügen daran hatte, mit Wörtern zu spielen und Dinge auf ungewöhnliche und neue Arten auszudrücken. Es erinnert viel mehr an die spielerische Virtuosität vedischer Poesie als an den zweckmäßigeren Stil der meisten Paligedichte.
Die Tatsache, dass sich in einer Strophe über Hirsche, die Täuschungen schaffen, so viele Obskuritäten und Rätsel finden, legt nahe, dass der Dichter sein Thema bewusst in seiner poetischen Wahl widerspiegelte. Er ließ sich von den Hirschen anregen, uns Streiche zu spielen. Und das weckt unsere Aufmerksamkeit, nach Dingen Ausschau zu halten, die wir vielleicht übersehen haben.
Spiel mit der Form
Es ist nicht nur das Vokabular, denn der Dichter amüsiert sich auch mit dem Klang von Wörtern.
Die eröffnende Zeile enthält eine bemerkenswerte Klangfigur. Sagen Sie sie auf, und es ist offensichtlich:
Aṭṭhakkhuraṁ kharādiye
Und wenn aṭṭhakkhuraṁ in der zweiten Strophe kommt, lässt der Dichter den anderen Teil des Wortes doppelt nachklingen:
Aṭṭhakkhuraṁ aḍḍharattāpapāyiṁ
Sehr clever!
Ein anderes bemerkenswertes Klangspiel gibt es zwischen der dritten Zeile der ersten Strophe:
Sattahi kālātikkantaṁ
und der letzten Zeile der zweiten Strophe:
Chahi kalāhitibhoti bhāgineyyo
Beide beginnen mit einer Zahl im Instrumental. Die Ähnlichkeit ist nicht nur formal, denn diese Zeilen erfüllen in ihren jeweiligen Strophen die gleiche Funktion, doch mit umgekehrter Bedeutung: Die erste erklärt, warum er abgewiesen werden soll (weil er Schulstunden schwänzt), und die zweite erklärt, warum er angenommen werden soll (weil er bei den Tricks wirklich gut ist). Der Dichter setzt diese Spiele nicht rein zufällig ein; er benutzt sie, um die Schlüsselstellen der Strophen hervorzuheben.
Der Gebrauch von Zahlen ist ein anderes auffälliges gemeinsames Merkmal:
acht Hufe
siebenmal
dreifacher Zusammenbruch
zahllose (aneka) Täuschungen
Mitternachtstrinker (wörtlich „halbe Nacht“)
ein Nasenloch
sechs Tricks
Diese gemeinsamen Motive sowohl im Vokabular als auch in der Form machen es sicher, dass die beiden Strophen zusammen verfasst wurden. Es scheint, als hätten sie ursprünglich eine Mini-Erzählung dargestellt, wurden dann aber getrennt und ihre Verbindung ging verloren.
Ein Punkt, in dem sich die Strophen unterscheiden, ist allerdings, dass sie unterschiedliche Versmaße haben. Die erste ist in achtsilbigem siloka, die zweite in elfsilbigem tuṭṭhubha. Beides sind gebräuchliche Versmaße im frühen Pali, daher ist daran nichts besonders Bemerkenswertes. Es scheint, der Dichter spielte mit den Versmaßen; vielleicht wollte er in der zweiten Strophe die Zeile verlängern, um eine ausführlichere Überzeugung zu ermöglichen. Gleichzeitig sorgte er dafür, dass die Strophen mit anderen formalen Mitteln zusammengebunden waren: Einheit mit Variation, die Säulen künstlerischer Form.
Was der Kommentar übersehen hat
Der Kommentar legt einen bemerkenswerten Mangel an Neugier an den Tag. Er will den Zweck der Lektion vermitteln: „Komm rechtzeitig zum Unterricht, sonst wird dein Lehrer dich abschreiben!“ Schön und gut! Es ist eine gute Lektion! Aber wenn er ein Wort erklärt hat, lässt er es einfach stehen, so bleiben die Strophen irgendwie ohne Sinn.
Das erste Wort aṭṭhakkhuraṁ ist ein gutes Beispiel dafür. Der Kommentar erklärt es richtig mit der Bedeutung, dass der Hirsch paarhufig ist. Aber warum wird das Wort hier gebraucht? Es ist das erste Wort in der Strophe, und es wird in der zweiten wiederholt, und soweit ich sagen kann, kommt es nirgendwo sonst vor. Es ist sicher irgendwie bedeutsam, oder? Wir werden darauf zurückkommen.
Das zweite Wort wird vom Kommentar als Name der Schwester des Bodhisatta in der Hintergrundgeschichte verstanden. Die Elemente dieser Geschichte sind eher unwahrscheinlich, wenn man sie wörtlich nimmt, da man im Prinzip die gleichen Ereignisse hat, die sich anscheinend zweimal in verschiedenen Leben an verschiedenen Orten abspielen. Wir wollen das beiseite lassen und nur nach dem Wort schauen.
Ādiye bedeutet so etwas wie „du sollst annehmen“. Khara bedeutet in den meisten Fällen „rau, fest“. Aber im Sanskrit ist es auch ein Wort für „Esel, Grautier“, wie in diesem Satz aus Manu 4.115:
Der Brahmane soll nicht vorlesen während eines Staubsturms, wenn der Himmel brennt, wenn Schakale heulen oder wenn Hunde oder Esel oder Kamele in einer Reihe schreien.
Faszinierend zu sehen, dass sie eine Aufzählung von Fällen hatten, in denen es schulfrei gibt!
Das passt gut in diesen Zusammenhang. Der Esel ist ein unpaarhufiges Tier, und statt sich auf eine Schwester zu beziehen, über die wir nichts wissen, weckt der Dichter Interesse an der Geschichte, indem er mit einem bewusst komischen Kontrast beginnt:
Du sollst den achthufigen Esel annehmen
In der nächsten Zeile besagt das Pali, der Hirsch sei vaṅkātivaṅkinaṁ, was in diesem Zusammenhang gut einleuchtet. Er wird empfohlen als einer, der ausgesprochen trickreich und voller Listen ist, und das setzt sich in der nächsten Strophe fort. Wir wissen aus MN 51:4.14 oder AN 8.13:1.11, dass Tiere Listen und Finten haben, mit denen sie sich menschlicher Kontrolle entziehen. Der Text erkennt diese an; er versteht Tiere als klug und nimmt sogar an, dass sie die Listen-Schule besuchen müssen, um von ihren Vorfahren zu lernen.
Doch der Kommentar hat hier ein Problem, weil die Geschichte es erfordert, dass hier der Bodhisatta spricht, und er ist auch derjenige, der den Hirsch in den folgenden Zeilen abweist. So versteht er vaṅka als eine körperliche Missbildung. Er sagt, vaṅka, wörtlich „krumm“, beziehe sich auf das Geweih des Hirschs, das „von der Wurzel bis zur Spitze krumm“ sei. Das ist unwahrscheinlich, da vaṅka nirgends sonst für ein Geweih verwendet wird, aber es wird für die Listen und Finten von Tieren verwendet, was das Hauptthema dieser Strophen ist.
Soweit wurden, wie ich es verstehe, die ersten beiden Zeilen von einem ungenannten Fürsprecher des jungen Hirschs gesprochen. Die nächsten beiden Zeilen stammen von einem anderen Sprecher, der den Antrag zurückweist. Beachte, dass nach meinem Verständnis die Zeilenpaare durch ein Verb im Optativ in der zweiten (ādiye) beziehungsweise ersten (ussahe) Person eine Symmetrie erhalten.
In der zweiten Strophe hat der Kommentar die Worterklärungen großenteils richtig, aber ich denke, es gibt ein paar Auffälligkeiten, die man sich anschauen sollte.
Die „sechs Tricks“ der letzten Zeile scheinen den Kommentar verwirrt zu haben, da er mehrere unterschiedliche Reihen von sechs anbietet. Aber die sechs Tricks wurden in der Strophe genannt:
drei Arten, zusammengebrochen da zu liegen (wie tot)
der Kommentar erklärt es als auf der rechten oder linken Seite oder gerade liegend
acht Hufe
heimlich um Mitternacht trinken
nur durch ein Nasenloch atmen (d. h. sich tot stellen)
Das wirft die Frage auf, inwiefern „acht Hufe“ ein Trick sind. Ich bin überzeugt, dass es ein Trick ist, die zentrale Rolle, die es in den Strophen hat, legt das nahe, aber ich weiß nicht genau, in welchem Sinn. In der ersten Strophe scheint die Idee zu sein, dass er so tun kann, als sei er ein anderes Tier, ein Esel in Form eines Hirschs oder umgekehrt. Vielleicht geht es um den zarten Gang des Hirschs, wenn er leise und sacht auftritt? Oder es geht um die Fußspur, die er hinterlässt? Wie dem auch sei, ich denke, es ist ein Trick, und der Kommentar hat das nicht erfasst und musste daher andere Reihen von sechs erfinden.
Dann gibt es da eine grammatische Nuance, die der Kommentar übergeht und die mich für eine Weile verblüfft hat. Schauen Sie sich die Formen in der zweiten Strophe an: Die ersten beiden Zeilen sind im Akkusativ ohne Verb, dann ist das zweite Paar, wie zu erwarten, im Nominativ mit Verben. Wie beziehen sie sich auf die gleiche Sache?
Ich denke, die ersten beiden Zeilen sind in der Form, die Wijesekera den „Akkusativ der Beziehung“ nennt, für den das kanonische Beispiel diese Wendung ist:
taṁ kho pana bhavantaṁ Gotamaṁ evaṃ kalyāṇo kittisaddo abbhuggato ein guter Ruf wurde über diesen Herrn Gotama verbreitet
Der Satz ist „in Bezug auf“ oder „über“ das, was im Akkusativ steht. Das verleiht der Strophe eine feiner gegliederte Struktur, die wir in der Übersetzung zum Ausdruck bringen können.
Das abschließende Wort in der zweiten Strophe ist bhāgineyyo. Das ist ein gebräuchliches Wort mit der Bedeutung „Neffe“. Ich glaube, dass der Kommentar von hier zurückgeschlossen hat, dass kharādiye ein Eigenname ist und sich auf die Schwester des Bodhisatta bezieht, und so wurde der ganze Rahmen der zwei Geschichten abgeleitet. Er zitiert sogar eine Ansicht, dass bhoti in der letzten Zeile von Manchen als Anrede an die Schwester angesehen wird (anstatt der näherliegenden Lesart atibhoti).
Aber was, wenn das alles ein Irrtum wäre? Wir wissen, dass der Dichter es liebte, seltene oder erfundene Wörter zu benutzen. Ich denke, wir können bhāgineyyo überzeugender auf bhāgin zurückführen, „einer, der einen Anteil hat“, mit der Endung der sekundären Ableitung eyya in Analogie zu dakkhiṇeyyo („einer, der einer religiösen Gabe würdig ist“), mit der Bedeutung „einer, der eine Chance verdient“.
Das macht aus der ganzen Sache eine schön gegliederte Erzählung. Die ersten beiden Zeilen und die zweite Strophe werden vom Fürsprecher des Hirschschülers gesprochen, der eine folgerichtige Argumentation vorlegt, dass sein Schützling tatsächlich schlau und listig genug ist, um angenommen zu werden. Der Lehrer ist widerstrebend wegen der mangelnden Pünktlichkeit des Hirschs, doch der Fürsprecher drängt darauf.
Dieser Spannung liegt die recht witzige Vorstellung zugrunde, dass man, wenn man eine Listen-Schule für ein entsetzlich flüchtiges Tier betreibt, nicht erwarten kann, dass es seine Listen nicht an einem selbst ausprobiert! Und wenn man annimmt, dass das eine Analogie dafür ist, junge Schüler zu unterrichten, so legt es reizenderweise nahe: Schreibe Teenager nicht ab, bloß weil sie Zicken machen, denn diese Aufsässigkeit und Verspieltheit sind die Quelle ihrer Kreativität, und sie sind unglaublich hilfreich, um in der wirklichen Welt zu überleben.
„Bitte nimm den achthufigen Esel an, den Hirsch, listiger als der Listige.“ „Er hat siebenmal die Zeit nicht eingehalten – ich werde mir nicht die Mühe machen, ihn zu unterweisen.“ „Über diesen Hirsch, dreifach zusammengebrochen mit vielen Täuschungen, achthufig, ein Mitternachtstrinker: Er atmet am Boden durch ein Nasenloch! Da er sich mit diesen sechs Tricks hervortut, verdient er eine Chance.“


Großartig, tiefgründig hat ein Lächeln wir ein Licht einer Eurekalampe auf meine Lippen gezaubert. Dankeschön 🙏🏻