Ein neues Verständnis des Mettāsutta, das alles ändert 🤯
Übersetzung von „A new reading of the Mettasutta that will change everything“ von Bhikkhu Sujato, 2022

Dies ist Teil einer Reihe von Beiträgen, mit denen ich Entwürfe verschiedener Diskussionen für meine Einführung zum Suttanipāta schreibe.
Wir wechseln zu einer positiven Stimmung und finden als Nächstes das berühmte Mettāsutta („Die Lehrrede von der Liebe“, Snp 1.8). Dies ist keine Reihe von Strophen über ein Thema, sondern ein zusammenhängendes Gedicht, das grob in drei Abschnitte gegliedert ist: Die Strophen 1–3ab legen den Grundstein für sittliches Verhalten; 3cd–6 beschreiben die Meditation über die Liebe; und die Strophen 7–9 schließlich stellen den triumphalen Zustand der Befreiung dar, der daraus hervorgeht. Strophe 10 ist in einem anderen Versmaß und scheint eine spätere Anfügung zu sein, die in äußerst komprimierter Form die Entwicklung der Einsicht beschreibt, mit der man zuerst den Stromeintritt und dann die Nichtwiederkehr erlangt.
Ich übersetze nun mettā mit „Liebe“ (engl.: love) und nicht mit dem buddhistischen Neologismus „liebende Güte“ (engl.: loving-kindness). Letzteres ist inzwischen weithin akzeptiert [gilt für das deutsche Wort genauso wie für das englische, A.d.Ü.]; es wird mit dem Argument begründet, dass „Liebe“ zu viele sinnliche Konnotationen habe. Und es ist richtig, dass das Pali zwischen sinnlicher Liebe (kāma, pema usw.) und spiritueller Liebe (mettā) unterscheidet, ganz ähnlich wie eros und agape im Griechischen. Ich habe einmal einen kontemplativen katholischen Mönch danach gefragt. Seine Muttersprache war Italienisch. Er sagte, es gebe im modernen Italienisch eine solche Unterscheidung nicht; man benutze in beiden Fällen amore und leite die Bedeutung aus dem Zusammenhang ab. Ich entschied mich für die gleiche Herangehensweise, und es scheint gut zu funktionieren.
Ich habe den Verdacht, dass der wahre Grund für die Wiedergabe als „liebende Güte“ (loving-kindness) darin liegt, dass uns das Ausdrücken von Emotionen manchmal unangenehm ist. „Liebende Güte“ ist ein etwas distanzierterer Ausdruck; er ist emotional kühler als „Liebe“. Ich ziehe den direkteren Ausdruck aus der Alltagssprache vor.
Die Zeilen, mit denen das Gedicht eröffnet wird, stellen ein gewisses Problem für die Interpretation dar, was sich in der komplexen Diskussion im Kommentar zeigt. Die zweite Zeile bezieht sich auf jemanden, der den „friedvollen Zustand“ von Nibbāna (santaṁ padaṁ) verwirklicht hat. Das Wort für „verwirklicht“ (abhisamecca) ist normalerweise für den Durchbruch zu den vier edlen Wahrheiten reserviert, z. B. in SN 56.4. Ein solcher Mensch muss dann zumindest in den Strom eingetreten sein (SN 56.49, siehe auch āgataphalā abhisametāvinī viññātasāsanā in Aniyata 1 [liegt nicht in deutscher Übersetzung vor, A.d.Ü.]). Ist dann dieses Gedicht nur für die Übung von jemandem gedacht, der in den Strom eingetreten ist? Angesichts der universellen Natur seiner Themen erscheint das unwahrscheinlich.
Jayawickrama schlägt vor, dass der „friedvolle Zustand“ nicht unbedingt Nibbāna bedeuten müsse, aber das scheint in den frühen Palitexten keine Unterstützung zu finden. Bodhi spricht das Problem in seiner Anmerkung 685 an, wo er bestätigt, dass jemand gemeint ist, der in den Strom eingetreten ist, und dabei die alternativen Erklärungen des Kommentars verwirft. Das ist eindeutig die direkteste Lesart für diese Zeilen.
Es bleibt jedoch die Frage, wie das zum Rest des Textes passt. Jemand, der in den Strom eingetreten ist, ist „im sittlichen Verhalten vervollkommnet“. Doch der Leser des Mettāsutta wird zu moralischer Integrität angehalten, er soll offen für Ermahnung sein, nicht übermäßig fordernd bei Spenderfamilien und soll nicht in tadelnswerter Weise handeln – alles Dinge, die bei jemandem, der in den Strom eingetreten ist, sicher ganz natürlich der Fall wären. Außerdem lehrte das ursprüngliche Gedicht, wie wir weiter unten sehen werden, nur den Weg bis zur Wiedergeburt in einer Brahmāwelt, und es ist unwahrscheinlich, dass der Buddha jemanden, der in den Strom eingetreten ist, so unterweisen würde. Das Gedicht hat im Ganzen einen hohen Grad an Einheit und Zielgerichtetheit, und all das scheint nicht recht zu passen.
Wenn wir nochmal zum Kommentar zurückgehen, so bietet er mehrere verschiedene Ansätze an. Unter anderem schlägt er vor, der Absolutiv könne auch in Infinitiv-Bedeutung gelesen werden. Das heißt, anstelle von „was verwirklicht worden ist“ würde es heißen: „um zu verwirklichen“ (abhisamecca viharitukāmo). Die Haupterklärung zu abhisamecca bestätigt es zwar als Absolutiv (abhisameccāti abhisamāgantvā), aber erklärt es auch als Infinitiv (adhigantukāmena). Außerdem spricht sie von einem Mönch, der „übt, um diesen Zustand zu erlangen“ (tadadhigamāya paṭipajjamāno).
Wenn wir diese Lesart übernehmen, bleibt uns ein weiteres Rätsel in dem Begriff atthakusala. Das Wort attha kann viele Dinge bedeuten, aber hier wird es vom Kommentar als das, was gut und nützlich ist, gedeutet, und dem folgen die meisten oder alle modernen Interpreten. Das schafft aber ein ähnliches Problem wie das, das im letzten Abschnitt diskutiert wurde, weil im Allgemeinen angenommen wird, dass man nur nach dem Stromeintritt in der Sittlichkeit vervollkommnet ist. Wer die vier edlen Wahrheiten nicht gesehen hat, kann natürlich ein gutes Leben führen, aber er ist noch kein „Kenner“. Der Kommentar scheint sich des Problems bewusst zu sein, da er anbietet, atthakusala als Infinitiv zu lesen, das heißt, „jemand, der in der vierfachen sittlichen Reinheit leben will“ (catupārisuddhisīle patiṭṭhātukāmo).
Doch eine solche Lesart ist hier nicht notwendig, denn atthakusala kommt in den Suttas vor, wo es sich auf Fachkenntnis in den Schriften bezieht (AN 5.169):
Da ist ein Mönch in der Bedeutung bewandert (atthakusala), er ist in der Lehre, in der Ausdrucksweise, in den Wendungen und in der Reihenfolge bewandert.
Nun haben wir eine viel befriedigendere Lesart für die eröffnenden Zeilen. Sie sind an jemanden gerichtet, der bereits den Text der Lehren beherrscht und nun wünscht, sie in die Praxis umzusetzen. Das folgt genau dem gleichen Muster, wie es der Bodhisatta unter seinen früheren Lehrern übte, wo er zuerst die Schriften lernte und dann die Meditation unternahm. Es ist auch der grundlegende Rahmen für die Übung der Mönche und Nonnen, die stufenweise Schulung, bei der der Mönch den Dhamma lernt und sich dann zum Meditieren zurückzieht.
Daher übersetze ich die eröffnenden Zeilen:
Die, die in der Bedeutung der Texte bewandert sind, sollten üben wie folgt, um den Zustand des Friedens zu verwirklichen:
Das erlaubt uns auch, die Eröffnung des Mettāsutta genauer in Bezug auf die angefügte letzte Strophe einzuordnen, die mit den Worten „wenn man Ansichten vermeidet“ beginnt. Das ist ein bedeutendes Thema im Suttanipāta, besonders im Aṭṭhakavagga, das einen der Kerne bildet, um die herum sich das Suttanipāta geformt hat. Die Bearbeiter, die diese Strophe anfügten, müssen das Aṭṭhakavagga gekannt haben, das oft die Ermahnung wiederholt, man solle die Falle hitziger und wütender Debatten über Ansichten vermeiden. Es ist gut möglich, sogar wahrscheinlich, dass diese Strophe angefügt wurde, als das Mettāsutta ins Suttanipāta aufgenommen wurde, um so eine Verbindung mit den Themen des Aṭṭhakavagga herzustellen und einen Meditationsweg aufzuzeigen, der besonders für diejenigen geeignet ist, die dazu neigen, sich in ihren Auseinandersetzungen zu erhitzen.
Das Mettāsutta spornt uns an, allen Wesen Liebe entgegenzubringen, auch denen, die „geboren sind oder geboren werden müssen“ (bhūtā vā sambhavesī vā). Letzteres, das nur hier und in einer Standardwendung z. B. in SN 12.11 vorkommt, bezieht sich offensichtlich auf Wesen, die sich in dem Prozess befinden, ein neues Leben anzunehmen – eine Vorstellung, die im offensichtlichen Widerspruch zum frühen Theravāda steht, der darauf besteht, dass ein Leben unmittelbar auf das vorherige folgt, ohne dass es einen „Zwischenzustand“ gäbe (Kv 8.2 [liegt nicht in deutscher Übersetzung vor, A.d.Ü.]). Eine Mehrheit der frühen buddhistischen Schulen nahm diesen Zustand an, und diese Wendung im Mettāsutta fügt sich zu einer Reihe anderer Stellen in den frühen Texten, die mit einer vernünftigen Gewissheit zeigen, dass das auch die frühen Buddhisten taten.
Dieser doktrinale Punkt spricht für eine frühe Einordnung dieses Gedichts, wie auch das Versmaß (altes Ārya), der zusammenhängende Fluss der Ideen und die Ausrichtung auf das universelle Thema Mettā, ohne eine „buddhistische“ Perspektive zu erzwingen – das Fehlen einer solchen hat offensichtlich das spätere Anfügen der Schlussstrophe angeregt.
Es wird in der buddhistischen Tradition angenommen, dass mettā und die übrigen brahmavihāras (karuṇā oder Mitgefühl, muditā oder freudige Anteilnahme und upekkhā oder Gleichmut) vorbuddhistisch sind und zu den sehr zahlreichen Vorstellungen gehören, die der Buddha gerne aus seinem religiösen Umfeld übernahm. Sie sind zwar meines Wissens in keinem überlebenden vorbuddhistischen Text bezeugt, aber man findet sie im Yogasūtra (1.33), in einigen späteren Upaniṣaden, dem Tattvarthasūtra der Jainas (7.11) und sogar in einem tibetischen Bön-Text aus dem elften Jahrhundert, „Eine Schatzgrube“ (mDzod-phug).
Wenn wir uns anschauen, wie das Wort brahmavihāra in den Suttas verwendet wird, so finden wir außer dem Mettāsutta eine weitere Strophe, in der sich der Begriff speziell auf die Übung von mettā bezieht (Thag 14.1). Der Ausdruck wird manchmal zusammen mit ariyavihāra und tathāgatavihāra für die Achtsamkeit auf den Atem verwendet, und in diesem Fall muss sich das Wort brahmā auf das Wesen dieses Namens beziehen, nicht auf eine abstrakte Bedeutung wie „göttlich“ oder „heilig“ (SN 54.11, SN 54.12). [In diesem Punkt hat der Autor seine Meinung inzwischen geändert; A.d.Ü.]
Diese Gruppe von vier Eigenschaften wird zwar allgemein gelehrt, aber sie wird speziell als brahmavihāras bezeichnet, um darauf hinzuweisen, dass eine solche Übung zur Wiedergeburt in der Brahmāwelt führt (MN 83, AN 5.192, DN 17). An anderer Stelle stellt der Buddha klar, dass solche Übungen, die er auch selbst in einem früheren Leben gemacht hatte, im Unterschied zu seinem eigenen achtfachen Pfad nicht zu Nibbāna führen (DN 19). Wenn ein buddhistischer Schüler sie übt, so wird er, wenn er das volle Erwachen nicht in diesem Leben verwirklicht, in der Brahmāwelt wiedergeboren werden und es dort erreichen (AN 4.125, AN 4.126).
Dies macht die Zeile „das ist eine Meditation Brahmās in diesem Leben“ noch spezifischer; sie war die letzte Zeile des ursprünglichen Gedichts. Sie bedeutet, dass man durch diese Meditation in diesem Leben wie der Gott Brahmā leben kann; und ein solches Leben führt dazu, dass man im nächsten als Brahmā wiedergeboren wird. Es ist zwar ungewöhnlich, dass wir einen buddhistischen Text finden, der mit einer solchen Wiedergeburt endet, aber doch nicht einzigartig. Im Tevijjasutta lehrt der Buddha einige brahmanische Fragesteller diesen Pfad (DN 13). Sāriputta tut in MN 97 das Gleiche, obwohl der Buddha hier offenbar findet, er hätte weiter gehen sollen. Das Ungewöhnliche ist vielmehr, dass die einleitende Passage des Mettāsutta offensichtlich buddhistische Mönche und Nonnen anspricht, während die anderen Suttas zu Menschen gesprochen werden, die keine überzeugten Buddhisten sind.
Wie andere didaktische Texte der frühen Periode fällt dieses Gedicht durch seinen einfachen Stil und das Fehlen von Metaphern auf. Aber diese Zurückhaltung spricht nicht für einen Mangel aufseiten des Dichters, denn wenn die Metapher von der Liebe der Mutter zu ihrem Kind eingeführt wird, so geschieht das am Höhepunkt des Gedichtes. Die Zurückhaltung schafft hier eine verstärkte Emotion, was eins der Geheimnisse hinter der anhaltenden Beliebtheit dieses Gedichts ist.

