Grundsätze für die Übersetzung
Übersetzung von „Principles of translation“ von Bhikkhu Brahmali, 2021
Dieser Text von Ajahn Brahmali bezieht sich auf Übersetzungen ins Englische; das Meiste ist aber auch für Übersetzungen ins Deutsche oder in andere Sprachen anwendbar. Die Grundsätze wurden bei der Übersetzung von Vinaya-Texten zusammengestellt, gelten prinzipiell aber auch für die Suttas. Punkt 10 wurde dem ursprünglichen Aufsatz aus der Diskussion hinzugefügt. Diese Grundsätze sind für meine eigene Übersetzungsarbeit eine wichtige Orientierungshilfe. — A.d.Ü.
Zum Originaltext mit Diskussion
Ich habe kürzlich die Grundsätze für die Übersetzung aufgeschrieben, die ich versucht habe, anzuwenden, als ich den Vinaya-Pitaka übersetzt habe. Ich möchte sie hier zum Zweck der Rückmeldung und Diskussion zur Verfügung stellen. Auch würde ich mich sehr freuen, über weitere Grundsätze zu hören, die ich nicht erwähnt habe.
Hier zunächst die Grundsätze in der Übersicht, danach folgt eine ausführlichere Besprechung:
(Fast) alles übersetzen
Verständliche und aussagekräftige Übersetzung
Prinzip der geringsten Bedeutung
Den mündlichen Charakter des Textes (zum Teil) in eine literarische Form umwandeln
Sprache und Vokabular einfach halten
Kein „buddhistisches Hybrid-Englisch“
Für Rechtschreibung und Vokabular amerikanische Formen benutzen
Manchmal für einen Palibegriff oder -ausdruck unterschiedliche Übersetzungen benutzen
Prinzip der „lectio difficilior potior“
Kontext geht über wörtliche Bedeutung und Etymologie
1. (Fast) alles übersetzen
Ich habe mich von dem Grundsatz leiten lassen, die sakrale buddhistische Literatur so leicht wie möglich zugänglich zu machen, unabhängig vom Grad der Vertrautheit des Lesers mit dem Buddhismus oder mit Pali. Praktisch bedeutete das, dass ich alle Palibegriffe und -ausdrücke übersetzt habe, mit den folgenden Ausnahmen: Buddha, Saṅgha und Paṇḍaka.
Beim Übersetzen von Palitexten gibt es eine Tendenz, eine beträchtliche Zahl von Begriffen unübersetzt zu lassen. Typische Beispiele von Wörtern, die unübersetzt bleiben, betreffen Kernvorstellungen wie Dhamma, Jhāna, Arahant, Uposatha, Kamma, Tathāgata und Nibbāna. Das Problem bei dieser Herangehensweise ist, dass sie Leser, besonders wenn sie neu zum Buddhismus kommen, im Dunkeln lässt. Meiner Meinung nach ist es besser, einen Palibegriff zu übersetzen, selbst in Fällen, in denen man keine vollständig befriedigende englische Entsprechung finden kann. Zumindest bekommt der Leser eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung des Textes, wodurch unerwartete Brüche in der Leseerfahrung vermieden werden.
2. Verständliche und aussagekräftige Übersetzung
Ich habe mich von dem Ideal leiten lassen, den gesamten Palitext in klares und unmissverständliches Englisch zu bringen.
Das Ziel des Buddha war es, seiner Zuhörerschaft seine Entdeckung zu vermitteln. Insofern erscheint es vernünftig, anzunehmen, dass seine Worte in Allgemeinen darauf abzielten, eine klare und unmissverständliche Botschaft zu übermitteln, mit gelegentlichen Ausnahmen, vor allem bei Versen. Nach meiner Erfahrung sind Übersetzungen aus dem Pali manchmal schwer zu verstehen, besonders, wenn der zugrunde liegende Palitext selbst schwierig oder vielleicht sogar entstellt ist. In solchen Fällen scheint es manchmal, als hätte sich der Übersetzer für eine streng wörtliche Übersetzung entschieden, um sich bei der Bedeutung nicht festlegen zu müssen. Das Ergebnis kann eine Wiedergabe sein, die entweder im Englischen nichtssagend ist oder zumindest schwer zu interpretieren. Wenn der Text, nachdem man sein Bestes versucht hat, das Pali zu verstehen, zweifelhaft bleibt, erscheint es mir richtig, sich für die wahrscheinlichste Bedeutung zu entscheiden und entsprechend zu übersetzen. Das kann gelegentlich zu einer falschen Übersetzung führen, aber zumindest ergibt es eine brauchbare Grundlage für weitere Diskussion, ein Potenzial, das weitgehend verlorengeht, wenn die Übersetzung nichtssagend oder schwer verständlich ist.
3. Prinzip der geringsten Bedeutung
Ich habe mich von dem Ideal leiten lassen, das Pali so wiederzugeben, wie es da steht, ohne unnötige Interpretationen hinzuzufügen.
Der Palikanon ist ein Korpus spiritueller Schriften, die manchmal eine tiefgründige Bedeutung haben. Daher ist es leicht, in die Palitexte eine Tiefe und verborgene Bedeutungen hineinzulesen und damit seine eigene Interpretation hinzuzufügen. Nach meiner Meinung ist die direkte Bedeutung des Textes immer die wahrscheinlichste. Der Buddha unterhielt sich mit gewöhnlichen Menschen. Bei seinem Versuch, seine Einsichten zu vermitteln, musste er wohl eine Sprache benutzen, die für die gewöhnlichen Mitglieder der Gesellschaft verständlich war und die für die Bevölkerung im Allgemeinen einen gemeinsamen Nenner darstellte.
Die Annahme, dass die direkteste Übersetzung die richtige ist, vermindert das Problem, dass der Übersetzer seine eigene Interpretation des Textes hinzufügt. Ein praktisches Beispiel dafür könnte sein, dass man einen Begriff wie Nibbāna mit „Erlöschen“ übersetzt, anstatt ihm einen tieferen mystischen Sinn zu geben oder ihn gar unübersetzt zu lassen; das würde dem Leser wohl Tür und Tor dafür öffnen, seine eigenen Vorurteile auf das Wort zu projizieren.
4. Den mündlichen Charakter des Textes (zum Teil) in eine literarische Form umwandeln
Ich habe mich von dem Ideal leiten lassen, die vielen Wiederholungen des Pali zu reduzieren, um eine natürlichere Leseerfahrung zu ermöglichen.
Der Palikanon hat in Hülle und Fülle Anzeichen dafür, dass er ursprünglich ein mündlich überlieferter „Text“ war, insbesondere in seinem überreichen Gebrauch von Wiederholungen. Wiederholung half dem Gedächtnis und sicherte den Text für spätere Generationen ab. In geschriebener Form dient eine solche Wiederholung allerdings nicht dem gleichen Zweck. Überdies wirkt sie oft lästig und langweilig, was moderne Leser abschreckt. Um dem entgegenzuwirken und den Text leserfreundlicher zu machen, glaube ich, dass es vernünftig ist, die Wiederholungen zu reduzieren. Hier einige Beispiele:
Der Palitext verwendet oft Synonymreihen, um die Bedeutung einer Idee zu übermitteln. Im Englischen reicht es häufig aus, diese auf ein einziges Wort zu reduzieren.
Wenn eine Anzahl von Gegenständen aufgezählt wird, was besonders im Aṅguttara-Nikāya sehr gebräuchlich ist, ist der dazugehörige Text oft für jeden der Gegenstände identisch. Meiner Meinung nach reicht es in der englischen Übersetzung häufig aus, die einzelnen Gegenstände einfach aufzuzählen und die identische Formulierung, von der sie umgeben sind, nicht zu wiederholen.
Die Palitexte haben, besonders in den kürzeren Suttas des Aṅguttara und des Saṁyutta, häufig die gleiche zusammenfassende Zeile am Anfang und am Ende des Sutta. Im Allgemeinen erscheint es ausreichend, eine davon zu behalten.
5. Sprache und Vokabular einfach halten
Ich habe mich von dem Grundsatz leiten lassen, normale Wörter und eine unkomplizierte Sprache zu benutzen.
Englische Übersetzungen werden von allen Arten von Menschen gelesen, darunter, ganz wichtig, solchen, für die Englisch nicht die Muttersprache ist. Damit alle Menschen von diesen Texten einen möglichst großen Nutzen haben, ist es wichtig, dass die Sprache leicht verständlich ist.
Es war, zumindest bis vor ganz Kurzem, sehr verbreitet, Übersetzungen von Palitexten einen künstlich altertümlichen und pathetischen Klang zu geben, vermutlich aus Respekt vor den Texten. Ich verstehe es aber so, dass es das Hauptanliegen des Buddha ist, die Bedeutung zu übermitteln. Eine künstlich pathetische Sprache behindert oft eine gute Kommunikation. Es gibt tatsächlich Hinweise im Kanon, dass der Buddha genau das vermeiden wollte.
6. Kein „buddhistisches Hybrid-Englisch“
Ich habe mich von dem Grundsatz leiten lassen, alles in idiomatischem Englisch wiederzugeben.
Zu oft ist das Englisch in Texten, die aus dem Pali übersetzt sind, gestelzt und künstlich in seiner Art. Das kann sich in der Wahl des Vokabulars oder im Satzbau ausdrücken, die oft zu nah am Pali-Original bleiben. Wie ich es sehe, besteht der Sinn einer Übersetzung darin, die Bedeutung wiederzugeben. Die eigentliche Sprache sollte in den Hintergrund treten und kaum wahrnehmbar sein. Mit anderen Worten, die Aufmerksamkeit sollte nicht unnötig von seltsamen Ausdrücken und Wörtern festgehalten werden, die nicht sofort einleuchtend sind. Um sicherzustellen, dass das Englisch möglichst natürlich ist, kann es nützlich sein, über die Bedeutung größerer Texteinheiten wie etwa ganzer Absätze nachzudenken.
7. Für Rechtschreibung und Vokabular amerikanische Formen benutzen
Ich habe mich von dem Grundsatz leiten lassen, die englische Form zu benutzen, die wahrscheinlich von der Mehrheit der Menschen am leichtesten verstanden wird.
Ob es einem gefällt oder nicht, es ist eine Tatsache, dass amerikanisches Englisch weltweit besser verstanden wird als andere Formen des Englischen. Wenn diese Texte eine allgemeine Leserschaft erreichen sollen, ist es daher pragmatisch, für Rechtschreibung, Vokabular und Ausdrucksweise amerikanische Formen zu benutzen.
8. Manchmal für einen Palibegriff oder -ausdruck unterschiedliche Übersetzungen benutzen
Ich habe mich von dem Grundsatz leiten lassen, Wörter entsprechend des Zusammenhangs zu übersetzen.
Es gibt normalerweise keine vollkommene semantische Übereinstimmung zwischen einem bestimmten Paliwort und irgendeiner Übersetzung ins Englische. Übersetzungsprojekte aus dem Pali wurden manchmal dadurch erschwert, dass auf einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen dem Ursprungswort auf Pali und der gewählten englischen Übersetzung bestanden wird. Um jedoch der Bedeutung des Pali wirklich gerecht zu werden, erfordert ein bestimmtes Wort oder eine Wendung im Pali oft mehrere Arten der Wiedergabe. Um ein Überhandnehmen verschiedener Übersetzungen für das gleiche Paliwort zu vermeiden, ist es wichtig, dass jede Übersetzung für den gleichen oder einen ähnlichen Zusammenhang die gleiche bleibt.
9. Prinzip der „lectio difficilior potior“
Ungewöhnliche Lesarten des Pali sollten ernst genommen werden. Solche Lesarten können manchmal das Ergebnis eines Schreibfehlers sein, aber oft können sie auch interessante oder gar wichtige archaische Merkmale des Textes widerspiegeln. Unnötige Vereinheitlichung des Textes wird den Reichtum des Originals vermindern.
10. Kontext geht über wörtliche Bedeutung und Etymologie
Man sollte sich nicht zu streng auf die wörtliche Bedeutung eines Wortes oder seine etymologische Ableitung stützen, sondern stattdessen den Kontext berücksichtigen.


