Schlange oder Akrobat – Jātaka 43
Übersetzung von „“The snake”; or, “the acrobat”: Jataka 43“ von Bhikkhu Sujato, 2024
In Jātaka 43 finden wir diese Strophe:
Wer den Rat nicht befolgt,
wenn er von einem angeleitet wird, der es gut meint,
sieht sich vernichtet
wie Veḷukas Vater.
Für Pali-Geeks: Das einzig Knifflige in dieser Strophe ist die dritte Zeile, wo wir seti finden, das normalerweise „legt sich nieder“ bedeutet. Hier ist es allerdings sa + eti im Sinn von „er kommt (zu einem solchen Zustand)“, d. h. er „wird“ oder „findet sich wieder“.
Das bezieht sich offensichtlich auf eine Geschichte, die zu der Strophe dazugehörte, wenn sie erzählt wurde. Die Strophe ist Teil einer Reihe von drei Jātakas (41, 42, 43), die die ersten beiden Zeilen gemeinsam haben.
Hier ist die Geschichte:
https://palikanon.com/khuddaka/jataka/j043.htm
Und hier der Wortkommentar (englisch):
https://ancient-buddhist-texts.net/Texts-and-Translations/Jatakagathavannana/043.htm
Nun, eins der interessanten Dinge bei den Jātakas ist ihre zusammengesetzte Natur. Die Strophen und Geschichten gehören zusammen, und häufig, so wie hier, ist die Strophe ohne eine Geschichte nicht zu verstehen. Doch wir wissen von anderen buddhistischen Texten, dass eine Strophe oder eine Redensart (oder übrigens auch eine Vinayaregel), die zu einer Geschichte gehören soll, nicht notwendigerweise zu dieser Geschichte gehört. Die gleiche Strophe oder Regel findet sich an verschiedenen Stellen häufig mit verschiedenen Geschichten. Daher sollten wir bei den Jātakas nicht annehmen, dass die Geschichte immer die einzige ist, ja nicht einmal die ursprüngliche.
Die Geschichte ist in diesem Fall eine bekannte Fabel. Ein Eremit freundet sich mit einer Giftschlange an und hält sie in einem Bambusrohr, daher ist die Giftschlange als „Veḷuka“ bekannt (von veḷu, Bambus). So sehr hängt er an ihr, dass er als ihr Vater bekannt wird. Seine Kameraden warnen ihn, dass die Schlange sich gegen ihn wenden werde, aber er besteht darauf, dass sie seine Freundin sei. Einmal muss er für ein paar Tage weggehen, und bei seiner Rückkehr beißt ihn die hungrige Giftschlange, und er stirbt.
Die Geschichte im Pali hat mehrere moralische Lehren:
Höre auf guten Rat.
Sei nicht zu anhänglich.
Schlangen sind gefährlich.
Doch die wichtigste Lehre aus der Strophe behandelt das Hören auf guten Rat, und das muss der Kern der zugehörigen Geschichte sein.
So wie die Jātaka-Geschichte da steht, scheint sie jedoch vielmehr den Schwerpunkt auf die gefährliche Natur der Giftschlange zu legen und zu betonen, dass ein schlechtes Geschöpf (oder ein schlechter Mensch) grundsätzlich schlecht ist und sich nicht ändern kann. Das ist eine zweifelhafte Botschaft, die zumindest in ihren Zusammenhang eingeordnet werden muss.
Diese Geschichte ist eins der vielen Jātakas, die eine Verbindung zu griechischen Geschichten haben:
https://www.projekt-gutenberg.org/aesop/fabeln2/chap004.html (siehe 55. Unangebrachte Mildtätigkeit)
Äsops Fabel war im Altertum sprichwörtlich und bleibt es bis heute in der englischen [und deutschen; A.d.Ü.] Redensart „eine Schlange am Busen nähren“. Mit dem Lied „The Snake“ von Oscar Brown wurde sie populär.
In jüngster Zeit geriet dieses Lied in Verruf, da es von Donald Trump bei seinen Wahlkampfauftritten laut vorgelesen wurde. Ich werde hier aus Mitgefühl mit Ihnen keinen Link anfügen, aber es ist wirklich bemerkenswert, wie er durch den Text stolpert, indem er auf Drittklässler-Niveau liest, in einem Kinderlied-Singsang intoniert, außer an einer Stelle: wenn es darum geht, die Schlange als böse zu beschreiben. Hier wird er lebendig, knurrt die Worte heraus und wiederholt sie.
Es wurde oft darauf hingewiesen, dass diese Darbietung ein Akt narzisstischer Projektion ist: Er ist die Schlange, und die leichtgläubigen Toren sind seine eigenen Anhänger, die ihn hereinlassen. Aber was er vordergründig im Sinn hat, ist, dass die Einwanderer die Schlange seien, und die andere Partei sei der gutherzige Tor, der gebissen werde. Die Tatsache, dass er die Worte eines schwarzen Aktivisten gebraucht, um farbige Menschen zu dämonisieren, spricht natürlich für sich selbst.
Wir sehen nun die unmittelbaren Folgen dieser Hassrhetorik in den USA. Eine widerwärtige alte Lüge über Einwanderer, die Katzen essen, wurde von einem Anführer der Nazigruppe Blood Tribe angeschoben und von einer Frau verbreitet, die nun von Schuldgefühlen wegen ihres Leichtsinns verzehrt wird. Die Geschichte wurde von Trump und seinen Spießgesellen aufgegriffen, die wussten, dass sie logen. Als unmittelbare Folge davon wurden in der betreffenden Stadt, Springfield, Schulen und Universitäten wegen Bombendrohungen geschlossen, während Nazi-Rowdys durch die Straßen zogen.
Wie kann es sein, so fragt man sich vielleicht, dass eine buddhistische Geschichte ein solches Ende nimmt? Dem nachzugehen, wäre eine verwickelte Reise, aber Wikipedia (EN) bemerkt, dass der Gebrauch dieser Geschichte zum Zweck der Dämonisierung von Einwanderern bis ins Russland des 19. Jahrhunderts zurückreicht:
Der russische Fabeldichter Ivan Krylov, der oft La Fontaines Fabeln für seine eigenen Variationen nutzte, adaptierte die Geschichte in seiner Fassung von „Der Landmann und die Schlange“, um zeitgenössische Umstände anzusprechen. Die Fabel entstand zu einer Zeit, in der viele russische Familien ihre Kinder von französischen Gefangenen aus der Invasion Napoleons I. von 1812 erziehen ließen, und er drückte sein Misstrauen gegenüber dem besiegten Feind aus. In seiner Fabel sucht die Schlange Zuflucht in einem Bauernhaus und bittet darum, als Dienerin aufgenommen zu werden. Der Bauer antwortet, er könne das Risiko nicht eingehen, denn selbst wenn sie mit ihrer Freundlichkeit ehrlich sei, würde eine einzige freundliche Schlange den Weg für hundert böse bereiten.
Die Wurzel des Problems liegt darin, dass bestimmte Eigenschaften Menschen oder Gruppen von Menschen zugeordnet werden. Wie wir gesehen haben, ist das nicht die wichtigste Moral der Jātaka-Geschichte, obwohl es darin angedeutet wird. Vergessen wir nicht, dass es in Indien, damals wie heute, eine große Zahl tatsächlicher Schlangen gibt, die tatsächlich Menschen töten, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die ursprüngliche Bedeutung einfach eine Warnung war, sich vor gefährlichen Tieren in Acht zu nehmen. Wenn Geschichten wiederholt werden, wird es möglich, ihre Bedeutung in Form einer Metapher zu abstrahieren. Aber die Art und Weise, in der Metaphern erweitert werden, sagt uns viel über den, der sie erweitert, und wenig über die ursprüngliche Geschichte.
Wie so oft bei diesen Geschichten ist es nicht ganz klar, ob sie ihren Ursprung im indischen oder im griechischen Kulturkreis (oder noch woanders) hatte. Wir können mit einiger Zuversicht sagen, dass die große Zahl gemeinsamer Geschichten in den Jātakas den Handel zwischen Indien auf der einen und Griechenland und Rom auf der anderen Seite nach Alexander widerspiegelt. Die Jātakasammlung weist selbst darauf hin, da es im ersten Kapitel um Geschichten über Kaufleute geht.
Die Strophen können sehr wohl älter sein als die Geschichten und in manchen Fällen, vielleicht in vielen, sogar älter als der Buddha. Schließlich sollen sie ja aus einer Zeit vor dem Buddha stammen. So alte Strophen spiegeln aber weniger wahrscheinlich mit Griechenland gemeinsame Formen wider, obwohl sie früher entstanden und später nach Griechenland gekommen sein könnten. Doch das ist in diesem Fall unwahrscheinlich, da die Geschichte schon vor Alexander in Griechenland sprichwörtlich war.
Dann wollen wir also fragen, was es über die Strophe selbst zu sagen gibt.
Wir wissen:
Das Thema ist die Gefahr der Vernachlässigung guten Rats.
Ein Protagonist ist „Veḷukas Vater“.
Für diesen Protagonisten geht es schlecht aus.
Das ist schon alles. Nichts über einen Eremiten oder eine Giftschlange.
Nun, veḷu heißt „Bambus“ und veḷuka ist typischerweise eine Art Bambusarbeiter. Spätere Hindutexte sagen, sie gehörten einer niederen Kaste an.
Es gibt viele Wörter für Bambus im Pali, und eins der anderen kommt in SN 47.19 vor. Dort begegnen wir einem „Bambusakrobaten von den Leichenarbeitern“ (caṇḍālavaṁsika). Offensichtlich gab es eine Tradition von Leichenarbeitern (caṇḍāla, die am meisten verachtete Kaste), die auf der Straße akrobatische Kunststücke vorführten.
Als buddhistischer Text setzt die Geschichte die Akrobaten nicht herab, sondern preist sie wegen ihrer Weisheit und Eintracht als Vorbild für Meditierende. Sie können ihr Kunststück sicher vorführen, weil sie auf den guten Rat des anderen hören, während sie auf der Bambusstange balancieren.
(Und ja, das bedeutet, dass buddhistische Suttas vermutlich den ältesten Hinweis der Welt auf Stangentanz enthalten. Die Verbindung ist nicht zufällig. In der Geschichte ist die Schülerin Medakathālikā ein Mädchen. Der Kommentar versucht zu behaupten, es sei ein Junge, da er sich offenbar nicht vorstellen kann, dass ein Mädchen, noch dazu ein kastenloses Mädchen, nicht nur ihrem Lehrer widersprechen kann, sondern dass der Buddha sie dafür noch lobt. Obwohl der Buddha offensichtlich ihre Geschicklichkeit anerkannte, scheint es doch, dass der Anblick eines Mädchens – wahrscheinlich nackt oder fast nackt –, das sich an einer Stange windet, für Mönche als unangemessen erotisch angesehen wurde, wie die Tatsache nahelegt, dass dies eine der verbotenen Vorführungen in DN 1:1.13.2 ist. Ich wette, Sie hatten „der Buddha war, kanonisch nachgewiesen, ein Fan von Stangentänzerinnen“, heute Morgen nicht auf Ihrer Bingokarte!)
Das scheint zu unserer Jātaka-Strophe gut zu passen.:
Wo die Jātaka-Strophe veḷuka hat, hat die Geschichte das synonyme vaṁsika.
Beide Kontexte betonen, wie wichtig es ist, auf guten Rat zu hören.
Die Geschichte enthält eine Lehrer-Schüler-Beziehung, in der die Schülerin gut das Kind des Lehrmeisters sein könnte. Somit passt sie zu dem Gebrauch von „Vater“ besser als die Geschichte mit der Schlange.
Natürlich ist die Erzählung umgekehrt, da im Sutta die Akrobaten in Sicherheit sind, während der Protagonist in der Jātaka-Strophe stirbt. Aber beide gehen davon aus, dass die akrobatischen Kunststücke gefährlich sind und Sorgsamkeit und Kooperation erfordern.
In solchen Fällen können wir nicht ohne gewichtigere Hinweise schlussfolgern, ob die Strophe im Licht von SN 47.19 oder mit ihrer traditionellen Geschichte gelesen werden sollte. Ich persönlich denke, es geht wahrscheinlicher um Akrobaten. Wenn ich dem folgen sollte, würde ich die letzte Zeile übersetzen: „wie der Vater des Akrobaten“.
Doch als Übersetzer lässt es mich innehalten. Ich wollte den Titel mit „Die Giftschlange im Bambus“ übersetzen, bis mir auffiel, dass es in der Strophe gar keine Giftschlange gibt. Besser, man vermeidet, eine Verbindung mit der Geschichte anzunehmen, wenn sie nicht gerechtfertigt ist.
Und was die historische Herkunft betrifft, so scheint es, dass wir von einer Verbindung der Geschichte mit Griechenland – welcher Art auch immer – nicht auf eine ähnliche Verbindung für die Strophe schließen können. Die Strophe, wenn sie von Akrobaten handelt, spielt vielmehr auf eine indigene indische kulturelle Praxis an und muss ihren Ursprung in einer lokalen Geschichte haben.
Was aber noch wichtiger ist: Das Ganze zeigt die Gefahren auf, die entstehen, wenn wir eine Moral aus einem alten Text ziehen wollen. Solche Erzählungen und auch die moralischen Lehren, die sie übermitteln, wurden von einem Lehrer erzählt und weitergegeben, in einem Zusammenhang, wo die Bedeutung und der Zweck klar herausgestellt wurden. Wenn wir einen Text aus seinem Zusammenhang herausnehmen, ist es leicht, ihn auf eine Art zu lesen, die sein Schöpfer unerträglich gefunden hätte. Wenn uns jede Moral und jeder Sinn für Anstand abgehen, werden wir selbst eine einfache Parabel zu einem Werkzeug des Bösen machen.
Für eine ausführliche Zusammenstellung von Verbindungen siehe GREEK MOTIFS IN THE JATAKAS, Merlin Peiris: https://www.jstor.org/stable/23730784?seq=15
Und über den Autor: http://www.srilankaguardian.org/2022/12/prof-merlin-peiris-last-of-mohicans.html


