Über abhängiges Entstehen, Ergreifen und Entwicklungspsychologie
Übersetzung von „On dependent origination, grasping, and developmental psychology“ von Bhikkhu Sujato, 20121
Lassen Sie uns einen subtilen Aspekt des abhängigen Entstehens betrachten: wie es in sich den Keim einer Theorie der Entwicklungspsychologie birgt.
Wir werden unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich zwei Suttas zuwenden: DN 15 Mahānidāna, „Die große Lehrrede über das Kausalprinzip“, und MN 38 Mahātaṇhāsaṅkhaya, „Die längere Lehrrede über die Auflösung des Verlangens“. Zusätzlich werden wir einen Blick auf die Standardanalyse der zwölf Faktoren werfen, die man in SN 12.2 Vibhaṅga findet.
Diese Texte führen eine genauere und organischere Beschreibung des abhängigen Entstehens ein, besonders der Sequenz um die Wiedergeburt herum, verglichen mit der abstrakteren Darstellung, die wir gewöhnlich finden.
MN 38 beschreibt den Vorgang der Empfängnis in Begriffen, die von den Brahmanen übernommen wurden. Empfängnis ist hier gabbhassāvakkanti, wobei avakkanti auf das „Empfangen“ des Babys hinweist. Avakkanti, alternativ auch okkanti geschrieben, ist eins der Standardsynonyme für jāti, d. h. „Wiedergeburt“ in SN 12.2.
Es heißt, Empfängnis findet mit drei Faktoren statt, wovon zwei physischer Natur sind – Geschlechtsverkehr und dass die Frau in der fruchtbaren Phase ihres Zyklus ist –, sowie mit der Anwesenheit des etwas geheimnisvollen gandhabba. Das ist hier ein interessanter Gebrauch, aber das überspringe ich jetzt. In den buddhistischen Traditionen wird es immer als ein Äquivalent zu „Bewusstsein“, d. h. viññāṇa erklärt.
Der Text spricht dann von dem Schmerz, den die Mutter erträgt, während sie ihr Kind neun oder zehn Monate lang austrägt, gefolgt vom Schmerz des Gebärens, und all das geht mit großen Risiken einher. Das Wort für „gebären“ ist vijāti.
DN 15 beschreibt den gleichen Vorgang auf leicht unterschiedliche Weise. Hier ist die Rede davon, dass Bewusstsein im Mutterleib empfangen wird (wieder okkanti) und dass Name und Form „gerinnen“. Ich denke, das ungewöhnliche Wort samuccissatha stammt von der alten Ansicht, dass der Embryo durch die „Gerinnung“ des Samens und des Menstruationsblutes gebildet wird. Ohne Kenntnis von Sperma und Eizelle ist das gar keine so schlechte Beschreibung.
Wieder werden die Risiken der Schwangerschaft betont, da DN 15 von der Möglichkeit einer Fehlgeburt (vokkamati) nach der Empfängnis spricht. Wenn das geschähe, gäbe es keine Geburt, die hier als abhinibbatti beschrieben wird, ein anderes der Standardsynonyme für Wiedergeburt in SN 12.2. Die Ankunft in „diesem Daseinszustand“ (itthatta) benutzt den gleichen Begriff, der gewöhnlich auf den Arahant angewendet wird, der nicht mehr „in diesem Daseinszustand“ wiedergeboren wird.
Somit sehen wir in diesen verschiedenen Berichten eine Reihe gemeinsamer Merkmale. Sprachlich gibt es ein gemeinsames Vokabular. Das ist kaum ungewöhnlich, da sie über die gleiche Sache sprechen. Eine größere Bedeutung hat da die Betonung der Bürde der Mutter und die Gefahren bei der Geburt eines Kindes. Offensichtlich war das eine traurige Realität für Frauen, und das bleibt es bis heute.
Die Gefahren machen bei der Geburt nicht Halt, denn DN 15 fährt fort mit der Feststellung, dass es auch sein könnte, dass der Junge (kumāra) oder das Mädchen (kumārikā) noch im jungen Alter (dahara), vor dem Heranwachsen (vuddhiṁ virūḷhiṁ vepullaṁ āpajjati), stirbt (vocchijjati, „abgeschnitten wird“). In beiden Fällen, bei einer Fehlgeburt oder dem Tod im Säuglingsalter, heißt es, „Name und Form“ setzen sich nicht fort, d. h. der Kreislauf des abhängigen Entstehens wird hier abgebrochen.
Das zeigt uns, dass der vollständige Vorgang des abhängigen Entstehens nicht in einem Leben abgeschlossen werden muss. Im Fall von jemandem, der zu jung stirbt, wird der Vorgang abgebrochen. In diesem Fall wird die Wiedergeburt, da das kleine Kind zu jung ist, um in diesem Leben irgendein bedeutsames Kamma geschaffen zu haben, vom Kamma aus früheren Leben bestimmt.
Doch was geschieht, wenn das Baby Schwangerschaft und frühe Kindheit überlebt? Das wird in MN 38 aufgegriffen. Der Junge – während DN 15 von Jungen und Mädchen spricht, sind in MN 38 nur Jungen genannt – wächst heran, und seine Sinnesfähigkeiten reifen heran. Das Wort für „heranwachsen“ (vuddhi) wird auf den „Jungen“ genauso angewendet wie zuvor auf „Name und Form“ in DN 15: Offensichtlich sprechen beide über die gleiche Sache.
Es ist interessant, dass das Kind an diesem Punkt „Kinderspiele“ mit Spielzeugen spielt, wozu auch Dinge wie Spielzeugwagen und Spielzeugbogen gehören. Worum es bei solchen Spielen geht, ist, dass sie nicht real sind. Wenn man einen Spielzeugbogen abschießt, verletzt man niemanden. Ein spielendes Kind schafft nicht in derselben Weise Kamma wie ein Erwachsener, wenn er das richtige Ding benutzt. Somit ist der Vorgang an dieser Stelle noch unvollständig.
Der Junge wächst dann weiter heran, und seine Sinnesfähigkeiten reifen weiter heran, bis er sich mit den fünf Sinnesreizen vergnügt. Der Text ist über den genauen Zeitrahmen nicht ganz klar, aber sicherlich wird die Person erwachsen. Der Text stellt ein paar Wegmarken in dem Entwicklungsprozess heraus. In jedem Fall sind die sechs Sinne (saḷāyatana) jetzt ausgereift. Das ist der Faktor, der im abhängigen Entstehen nach „Name und Form“ kommt.
Als nächstes heißt es, er erfährt Sinnesreize durch diese Sinnesorgane, beginnend mit dem Auge. Das ist Kontakt (phassa), der nach den sechs Sinnen kommt. Das Erfahren von „Kontakt“ mit Sinnesreizen führt zu angenehmen und unangenehmen Gefühlen (vedanā), die er, wenn er nicht achtsam ist, begehrt und genießt, das Äquivalent zu Verlangen (taṇhā). Das wiederum führt zu „Ergreifen“ (upādāna), und der Rest des abhängigen Entstehens folgt wie üblich.
(In MN 38 ist „Ergreifen“ der Punkt, an dem zum „normalen“ abhängigen Entstehen zurückgekehrt wird. Es mag bloß Zufall sein, aber auch in DN 15 wird die Folge bis zum Ergreifen auf ungewöhnliche Art präsentiert. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine Bedeutung hat.)
Was aber sicherlich eine Bedeutung hat, ist die Art, wie sich die Definition beim Ergreifen ändert. Sehen wir uns eine Übersicht über die Faktoren, die zum Ergreifen führen, aus SN 12.2 an:
Und was sind die sechs Sinnesfelder? Die Sinnesfelder von Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Geist.
Und was ist Kontakt? …Kontakt mit dem Auge, dem Ohr, der Nase, der Zunge, dem Körper und dem Geist.
Und was ist Gefühl? … Gefühl entsprungen aus Kontakt mit dem Auge, dem Ohr, der Nase, der Zunge, dem Körper und dem Geist.
Und was ist Verlangen? … Verlangen nach Bildern, Tönen, Gerüchen, Geschmäcken, Berührungen und Vorstellungen.
Und was ist Ergreifen? … Ergreifen von Sinnenfreuden, von Ansichten, von Regeln und Gelübden und von Selbsttheorien.
Eins dieser Dinge ist nicht wie die anderen! Vom Zeitpunkt der Geburt an sind die Faktoren alle in Begriffen der sechs Sinne formuliert. Das entspricht dem Heranwachsen des Kindes und der allmählich wachsenden Kapazität seiner Funktionen. Entscheidend ist: Ein Kind verlangt nach Nahrung oder Geborgenheit oder Aufmerksamkeit. Das ist ein grundlegender, ja ursprünglicher Instinkt, den es mit Tieren gemeinsam hat. Er ist sehr elementar.
Viel weniger elementar ist es, an Ansichten zu hängen. Kinder weinen, weil sie nicht bekommen, was sie wollen. Erwachsene streiten sich, weil sie verschiedene politische Ansichten haben. Ein Kind muss schrittweise lernen, zu denken, Konzepte zu bilden, Abstraktionen zu erfassen und seine eigenen „Ansichten“ über die Welt zu formen und aufrechtzuerhalten. Erwachsene brauchen das, um funktionsfähig zu sein.
Weiterhin nimmt ein Erwachsener bestimmte Normen, Ethikregeln, religiöse Gelübde und Ähnliches an. Er geht in die Kirche, rezitiert heilige Worte oder übt auf irgendeine Art Handlungen aus, die sein Leben mit seinem eigenen Verständnis eines höheren Sinns verbinden. Selbst Atheisten finden ihre eigene Art, Ähnliches zu tun. Ein Kind hat noch keine „Ansicht über die Welt“ entwickelt und kann solche Dinge nicht auf sinnvolle Art tun. Seine Eltern nehmen es vielleicht mit zum Tempel, aber es hat noch kein inneres Verständnis für die Bedeutung dessen, was vor sich geht.
Ferner entwickelt ein Erwachsener irgendeine Art von Selbsttheorie. Man beachte, dass es sich hierbei nicht um das handelt, was die Tierpsychologen meinen, wenn sie darüber debattieren, ob ein Papagei eine Theorie des Mentalen hat. Dabei geht es um eine viel elementarere intuitive Art von Selbst-Gewahrsein, die im Buddhismus attasaññā wäre, eine „Selbst-Wahrnehmung“. Ein Tier oder ein kleines Kind kann eine Vorstellung von sich selbst haben, es kann sich selbst in einem Spiegel erkennen und Handlungen verüben, die zeigen, dass es einen kohärenten Begriff von sich hat, der über die Zeit andauert, sogar dass es für seine Handlungen verantwortlich ist. Aber es kann nicht mit anderen über das Für und Wider behavioristischer oder funktionalistischer Selbsttheorien debattieren oder die unterschiedlichen Arten verstehen, in denen das „Selbst“ im Buddhismus und in der Jung’schen Psychotherapie gebraucht wird. Es bildet keine ausgearbeiteten Konzepte des Selbst. Erwachsene tun das, und wir können über diese Dinge nachdenken und diskutieren.
Somit ist der Schritt von „Verlangen“ (taṇhā) zu „Ergreifen“ (upādāna) mehr als eine bloße Steigerung und Erweiterung des Verlangens. Es ist das, was dem Verlangen widerfährt, wenn es erwachsen wird. Ein Erwachsener setzt sein Begehren nach Sinnesreizen fort und verfeinert es. Einerseits ist sein Bedürfnis nach Befriedigung gezügelt und gemäßigt – wir weinen nicht mehr, wenn wir hungrig sind –, andererseits ist es verstärkt oder gar korrumpiert von Grausamkeit und Maßlosigkeit. Das ist Teil der Vorstellung des „Ergreifens von Sinnenfreuden“: Es ist nicht länger eine bloße Reaktion auf elementare Instinkte, sondern der Aufbau des Lebens um die Befriedigung herum.
Die Befriedigung der Sinne verbindet sich aber zunehmend mit Vorstellungen und einem Gefühl von Selbstidentität. Ein Baby weiß nur, ob es ein Lebensmittel mag oder nicht; ein Erwachsener ist snobistisch, weil er „bessere“ Dinge mag als jemand anderes. Dieses Gestalten der Welt nach Konzepten ist notwendig, weil ein Erwachsener erwachsene Entscheidungen trifft: die Entscheidung, diese oder jene Müslimarke zu kaufen; die Entscheidung, für einen politischen Kandidaten zu stimmen, der uns eine Steuervergünstigung verspricht, oder für einen, der verspricht, die Benachteiligten anständig zu behandeln.
Ansichten und Theorien formen die Art, wie wir die Welt sehen, und die Art, wie wir in ihr handeln. Wir müssen Ansichten haben; ohne sie funktioniert unser Geist nicht. In spirituellen Kreisen hört man häufig Leute sagen, wir sollten keine Ansichten haben. Natürlich wäre das eine Ansicht! Was die „Keine-Ansicht“-Leute wirklich sagen, ist: beugt euch meinen Ansichten.
Da Ansichten sich auf fast alles auswirken, was wir tun, sollten wir sehr darauf achten, welche Ansichten wir haben. Ansichten sind beharrlich; sie sind lang anhaltende, abstrakte Strukturen im Geist. Gedanken kommen und gehen, Absichten entstehen und vergehen, aber Ansichten ändern sich mit eiszeitlicher Langsamkeit, wenn sie sich einmal festgesetzt haben.
Es ist wegen dieser Beharrlichkeit von Ansichten, dass sie nicht nur diese oder jene Handlung formen, nicht nur diese oder jene Entscheidung, sondern die ganze Bandbreite an Entscheidungen, die wir im Lauf unseres Lebens treffen. Sie lenken unsere kammischen Entscheidungen in einen bestimmten Verlauf, wie ein Fluss zahllose Wassertropfen lenkt.
Und diese Beharrlichkeit und die Gestalt der Ansichten ist es, was die Form unseres nächsten Lebens schafft, unseres bhava, der Wiedergeburt in einen neuen Zustand. Normalerweise wird Wiedergeburt nicht durch eine zufällige Handlung geformt, die losgelöst von unserem Charakter, unseren Ansichten und unserer Lebensweise ist; sie ist das Ergebnis der Handlungen, die unser Leben und die Person, die wir sind, ausmachen.
Im Buddhismus wie in der Rechtsprechung wird es normalerweise so verstanden, dass die volle moralische Verantwortung die Domäne der Erwachsenen ist. Wir behandeln Kinder oder Tiere nicht in gleicher Weise als moralisch verantwortliche Akteure. Wir behandeln Kinder so, dass sie lernen können, wie man sich verhalten soll, während wir Erwachsene nach der Annahme behandeln, dass sie das gelernt haben sollten. Offensichtlich gibt es hier nicht einfach Schwarz und Weiß. Kinder erlernen schrittweise ein Gefühl moralischer Verantwortung, und innerhalb des Tierreichs, besonders bei den intelligenteren Tieren, gibt es ein deutliches Gefühl von Moral, von Scham oder von Freundlichkeit. Aber volle moralische Verantwortung erfordert ein Gewahrsein davon, warum man handelt und was die Folgen sind. Während wir also Kinder oder Tiere zur Rechenschaft ziehen, wenn sie ungezogen sind, behandeln wir sie nicht auf die gleiche Art, wie wir es mit einem Erwachsenen tun würden.
Und im abhängigen Entstehen wird der vollständige Kreislauf nicht erneuert, bevor die Person reif genug ist, Ansichten zu haben und ihre Handlungen daran auszurichten. Wir haben bereits gesehen, dass der Vorgang nicht immer vollständig ist, selbst nach der Geburt, da ein Baby oder junges Kind sterben kann, ehe es in der Lage ist, als Akteur zu handeln. Wenn ein Kind heranwächst, lernt es allmählich, ein verantwortlicher Akteur zu sein, und entsprechend wächst das moralische und kammische Gewicht seiner Handlungen.
Das erklärt, warum das volle Gewicht des Kamma in der Menschenwelt zum Tragen kommt. Nicht dass Tiere keine guten oder schlechten Taten verüben könnten; aber allgemein gesprochen sind sie keine verantwortlichen moralischen Akteure in der gleichen Art wie ein erwachsener Mensch.
Es sind Zeit und Mühe erforderlich, um zu lernen, wie man ein moralischer Akteur ist. Wenn dieser Prozess unvollständig ist, werden die Wirkungen von Entscheidungen dieses Lebens schwach sein, und die Wirkungen von Entscheidungen in früheren Leben werden gewöhnlich vorherrschen. Aus der Perspektive von Saṁsāra als Ganzem besteht die Tragödie eines vorzeitigen Todes nicht nur im Verlust eines Lebens, sondern im Verlust einer seltenen und kostbaren Gelegenheit, zu lernen und zu wachsen, gutes Kamma zu schaffen und zu verstehen, was das Leben ist und welchen Sinn es hat. Wenn sie einmal vorübergegangen ist – wer weiß, wann diese Chance wieder kommen wird?
Wir sind diese Geschöpfe, diese Babys, diese kleinen Tiere, und wir hatten das Glück, es bis hierher zu schaffen. Wir können wählen, wie unsere Sicht der Welt gestaltet wird, und können unsere eigenen Entscheidungen treffen, die unsere Leben in der Zukunft gestalten oder uns ganz darüber hinaus tragen.


