Dhammaregen-Newsletter Januar 2023
Neues rund um Dhammaregen und frühe buddhistische Texte
Der heutige Newsletter schaut einmal nach einer Sammlung, die nicht zu den frühen buddhistischen Texten zählt, aber dennoch weithin bekannt ist: den Jātakas. Er stellt auch die Frage nach dem ältesten Jātaka. Und er erforscht zusammen mit einem Ortsvorsteher Fragen nach Schuld und Kamma.
Die Jātakas, Volksmärchen und großer Mythos
Auf SuttaCentral finden wir im Unterschied zu Dhammaregen ein weit größeres Spektrum an Texten versammelt. Neben den mit der neuen Technik segmentierten Texten gibt es auch sogenannte „übernommene Übersetzungen“, die auch technisch nach anderen Methoden aufbereitet sind und daher nicht so viele Möglichkeiten für die Präsentation bieten wie die segmentierten Texte (wie z. B. mehrsprachige Darstellung). Nichtsdestotrotz sind es wertvolle Übersetzungen, und viele davon liegen nur in diesem Format vor und wurden in keine Sprache mit der neuen Technik übersetzt.
Dazu gehören unter anderem die Jātakas.
Die Jātakas sind eine Sammlung von Geschichten über frühere Leben des Buddha, die typischerweise aus zwei Teilen bestehen: der Geschichte aus dem „heutigen“ Leben des Buddha und der aus dem früheren; beide Geschichten sind miteinander verbunden, indem Protagonisten aus beiden miteinander identifiziert werden. Auch wenn sie nicht zu den frühen buddhistischen Texten zählen, stellen die Jātakas aus verschiedenen Gründen eine bemerkenswerte Sammlung dar.
Zunächst einmal ist die Frage nach ihrem Alter nicht klar und einfach zu beantworten. In der Form, in der wir sie heute als kanonische Sammlung haben, sind die Jātakas mehrere Jahrhunderte nach dem Buddha entstanden. Doch ihre Wurzeln reichen vielfach in vorbuddhistische Zeit zurück. Es ist wie mit unseren Volksmärchen: Sie existierten über unbestimmbar lange Zeiträume als lose flottierende Volkserzählungen, bevor die Brüder Grimm sie im 19. Jahrhundert sammelten und in gedruckter Form herausgaben. Zu sagen, Grimms Märchen stammten von 1812, wäre zwar nicht falsch, würde aber nur einen Teil der Wahrheit treffen.
So finden wir in vielen Jātakas politische und gesellschaftliche Verhältnisse beschrieben, wie sie zur Zeit des Buddha nicht mehr bestanden. Die häufige Einführung „Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte“, etwa weist auf eine mythische Vergangenheit hin. Auch finden wir manchmal religiöse Praktiken, die rigoroser und brutaler sind, als sie vom Buddha in den Suttas gelehrt werden.
Besonders das Frauenbild ist in den Jātakas wesentlich unausgewogener als in den Suttas der Nikāyas. Auch wenn es in den Suttas gelegentlich frauenfeindliche Stellen gibt, so ist das Bild im Ganzen doch von einer weitgehenden Symmetrie zwischen den Geschlechtern geprägt. Das ist in den Jātakas anders. Insbesondere wenn es um das Bewahren der ehelichen Treue oder das Einhalten des Zölibats geht, so gelten Frauen in der Regel als die Schuldigen für Fehlverhalten, während die Männer die Betrogenen sind. Selbst eine Frau, die ihr ganzes Leben im Bauch eines Dämons eingeschlossen ist, damit sie keine Möglichkeit zu einem Seitensprung finden soll, gilt als die „Schuldige“, wenn sie die nächstbeste Gelegenheit ergreift, um ihrer Lage zu entkommen.
Wie kommt es, dass solche Volkserzählungen, die in ihren Wurzeln nichts mit dem Buddhismus zu tun haben, ihren Weg in den buddhistischen Kanon fanden? Vielleicht sollten wir fragen: Welchen Zweck erfüllen sie da? Sie dienen in erster Linie als moralische Lehrstücke zur Veranschaulichung des Kamma-Prinzips: Unsere Taten aus der fernen Vergangenheit haben Auswirkungen in unserem jetzigen Leben.
Wahrscheinlich haben die Jātakas zu einer Zeit Eingang in den Kanon gefunden, zu der die Idee des Bodhisattva-Ideals Gestalt annahm. In den frühen Texten finden wir nicht die Vorstellung, ein künftiger Buddha hätte in ferner Vergangenheit einen entsprechenden Entschluss gefasst und würde über zahllose Leben und Äonen von Zeiträumen hinweg Verdienst schaffen, um zu dieser Verwirklichung in der Lage zu sein. Mit dem Aufkommen dieser Vorstellung lag es nahe, Geschichten darüber zu erzählen, wie der Buddha in zahllosen Leben an seiner Vervollkommnung gearbeitet hat. So verwandelten sich alte Volksmärchen in Jātakas.
An vielen Stellen haben die Jātakas aber ihre vorbuddhistischen Ecken und Kanten behalten und stellen damit eine unschätzbare Fundgrube an mythologischem Material dar. Nicht selten finden wir seltsame Ungereimtheiten, auch was die moralische Bewertung von Handlungen betrifft, wie das für mythische Literatur charakteristisch ist. Schließlich dienen Mythen u. a. dazu, die unauflöslichen Widersprüche, mit denen uns das Leben konfrontiert, in eine Geschichte einzubetten und sie dadurch besser zu bewältigen.
Nehmen wir nur die zahlreichen Jātakas, die das Fortziehen aus dem weltlichen Leben zum Thema haben. Wie soll die buddhistische Gemeinschaft damit fertig werden, dass ihr Begründer seine junge Familie und seine Eltern zurückließ und gegen deren Willen in die Wildnis zog, um „das Glück“ zu suchen? Zwei Wertesysteme stehen hier in einem unauflöslichen Konflikt zueinander.
Also werden darüber Geschichten erzählt:
Der Bodhisatta zieht gegen den Willen seiner Familie fort.
Der Bodhisatta zieht mit Zustimmung seiner Familie fort.
Der Bodhisatta zieht zusammen mit seiner Frau oder anderen Familienmitgliedern fort.
Der Bodhisatta zieht zusammen mit dem ganzen Hofstaat, der ganzen Stadt oder dem ganzen Königreich fort, ja sogar mit mehreren Königreichen.
Der Bodhisatta zieht nicht fort, aber sein Freund zieht fort.
Der Bodhisatta will fortziehen und seine Frau will es auch, aber die Kinder sind noch zu klein – da läuft sie weg und lässt ihn allein die Kinder großziehen.
Und so weiter …

Als kanonisch gelten bei den Jātakas aber nur die darin eingebundenen Strophen. Der Prosatext wurde im Kommentar überliefert.
Wir sind in der glücklichen Lage, dass Dr. Julius Dutoit zwischen 1908 und 1921 eine vollständige deutsche Übersetzung dieser interessanten Sammlung angefertigt hat. Kleine einführende Zusammenfassungen auf SuttaCentral helfen nun, sich einen ersten Eindruck von der jeweiligen Geschichte zu machen.
Hier finden Sie alle Jātakas. (Bitte beachten: Webseitensprache auf „Deutsch“ einstellen; sollten Sie dennoch einzelne Einführungen in englischer Sprache sehen, laden Sie bitte die Seite neu und / oder leeren Sie den Cache Ihres Browsers.)
Welches ist das älteste Jātaka?
Neben der eigentlichen Jātaka-Sammlung finden wir auch in den Nikāyas vereinzelt Suttas, die die Kriterien eines Jātaka erfüllen, d. h. die eine Geschichte aus einem früheren Leben des Buddha erzählen und dann den Protagonisten mit dem Buddha identifizieren. Bhante Sujato hat in diesem Essay möglicherweise den ältesten dieser Texte ausgemacht.
Der Klang der Liebe
Bleiben wir noch bei dem Thema Kamma.
Das 42. Saṁyutta ist eine interessante kleine Sammlung, in der der Buddha sich mit verschiedenen Menschen in Führungspositionen unterhält. Es geht dabei um recht unterschiedliche Themen, darunter sind ein paar Suttas, in denen es um moralische Fragen und das Schicksal nach dem Tod geht.
Eins davon, das ich hier herauspicken möchte, ist ein Gespräch mit einem Ortsvorsteher namens Asibandhakas Sohn, der ein Anhänger der Jainas ist. Der Buddha fragt ihn, wie Nigaṇṭha Nātaputta seine Schüler anleitet, und Asibandhakas Sohn erklärt, dass nach Nigaṇṭha Nātaputta jeder, der eine Ethikregel übertritt, in die Hölle kommt. Gleichzeitig sagt er aber auch, das Schicksal nach dem Tod hänge von der gewöhnlichen Art des Handelns ab.
Der Buddha weist zunächst auf den Widerspruch in diesen Aussagen hin und arbeitet dann einen Aspekt heraus, den ich besonders interessant finde. Wenn ein Schüler einem Lehrer folgt, der lehrt, dass man für jedes Übertreten einer Ethikregel in die Hölle komme, dann kann das bei diesem Schüler gravierenden Schaden anrichten, da er denkt:
‚Mein Lehrer hat diese Doktrin, diese Ansicht: „Jeder, der ein lebendes Geschöpf tötet, stiehlt, sexuelle Verfehlungen begeht oder lügt, geht zu einem verlorenen Ort, in die Hölle.“ Aber ich habe lebende Geschöpfe getötet … habe gestohlen … habe sexuelle Verfehlungen begangen … oder habe gelogen.‘ Er gewinnt die Ansicht: ‚Auch ich werde zu einem verlorenen Ort gehen, in die Hölle.‘
Wenn er diese Rede und diesen Gedanken nicht aufgibt und diese Ansicht nicht loslässt, wird er in die Hölle gestoßen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich erinnert das sehr an das Gefühl, das ich aus meiner katholischen Erziehung gewann. Daher ist es ein so erfrischender Kontrast, nun die Darstellung des Buddha zu lesen. Diesmal denkt der Schüler:
‚Auf vielerlei Art tadelt der Buddha das Töten lebender Geschöpfe und prangert es an: „Hört auf, lebende Geschöpfe zu töten!“ Aber ich habe zu einem gewissen Grad lebende Geschöpfe getötet. Das ist nicht richtig, es ist nicht gut, und ich bereue es. Aber was ich getan habe, kann ich nicht ungeschehen machen.‘
Wenn er so nachdenkt, gibt er das Töten lebender Geschöpfe auf und tötet künftig keine lebenden Geschöpfe mehr. So gibt man diese schlechte Tat auf und überwindet sie.
Und dann geht der Buddha noch einen Schritt weiter, denn der Schüler, der durch diese Übung auf einen guten Weg gekommen ist, ist irgendwann innerlich bereit, die Mettameditation und die anderen Brahmāvihāras zu üben. Und welche Wirkung hat das nun auf seine früheren Taten, als er die Ethikregeln übertreten hat?
Wie wenn da ein machtvoller Schneckenhornbläser wäre: Er würde sich mühelos in allen vier Himmelsrichtungen Gehör verschaffen. Ebenso werden, wenn die Erlösung des Herzens durch Liebe so entwickelt und ausgebaut wurde, alle begrenzten Taten, die dieser Mensch begangen hat, hier nicht bleiben oder Bestand haben.

Lesen Sie das ganze Sutta SN 42.8.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen ein gutes Jahr 2023, allem voran ein warmes Herz! ❤️
Neu auf Dhammaregen
Seit dem letzten Newsletter wurden folgende Essays hinzugefügt:
Das erste Jātaka? – Zum Essay
Seit dem letzten Newsletter wurden folgende Suttas hinzugefügt:
MN 59
SN 36.20-31; SN 37-39; SN 41.1-10 – damit sind diese Saṁyuttas jetzt vollständig; SN 42.1-10
Übersicht über alle Übersetzungen
Sutta-Erkundungen
Die Sutta-Erkundungen sind ein monatliches Online-Format zum Studium der Suttas in einer Gruppe, das sich an die lectio divina aus der alten christlichen Klostertradition anlehnt. Das ermöglicht ein eher meditatives Herangehen an die Suttas. Die Sutta-Erkundungen finden jeden ersten Freitag im Monat statt.
Nächste Termine: 6. Januar, 3. Februar und 3. März 2023, jeweils 18:30 – 20:00 h MEZ.
Bei Interesse senden Sie bitte eine Email an dhammaregen@gmail.com. Sie werden dann eine Einladung mit den Zoom-Zugangsdaten erhalten.
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