Dhammaregen-Newsletter September 2022
Neues rund um Dhammaregen und frühe buddhistische Texte
Der heutige Newsletter blickt tief in die Vergangenheit zurück, in die Dämmerung der Zeiten, durch die Brille der Mythologie.
Buddhistische Mythologie – was ist das?
Buddhistische Mythologie ist ein wenig bearbeitetes und kaum diskutiertes Themenfeld. Bhante Sujato ist jemand, der sich dafür interessiert und einiges zu dem Gebiet beigetragen hat. Da auch ich das Thema faszinierend finde, habe ich begonnen, einige seiner Arbeiten in deutscher Sprache zugänglich zu machen.
Dhammaregen hat nun eine neue Mythologie-Ecke, wo man einige Aufsätze und weitere Ressourcen zum Thema finden kann.
Eine allgemeine Einführung findet man in dem Aufsatz „Was ist Mythos, und warum ist er bedeutsam?“.
Kurz gesagt ist ein Mythos eine Geschichte, die eine Erklärung für einen Sachverhalt in der Natur oder in der Gesellschaft anbietet und somit eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt der Gesellschaft hat. Alte Mythen sind organisch gewachsen und durchdringen eine Gesellschaft in vielfältiger Form, nicht nur als Geschichten, die erzählt werden, sondern genauso als Bilder, Riten, Gewohnheiten, sprachliche Besonderheiten usw.
Jüngere Mythen sind im Unterschied dazu bewusst geschaffen und gestaltet. Sie dienen dazu, emotionale Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa die verschiedenen Varianten der Buddha-Biografie, die sich nach dem Tod des Buddha herausbildeten: Sie halfen der buddhistischen Gemeinschaft, mit dem Verlust ihres Lehrers umzugehen. Manchmal erfüllen jüngere Mythen auch die Funktion, bestimmte Ansichten oder Regeln zu rechtfertigen, oder sie dienen einfach der Unterhaltung, wie uns etwa Hollywood zeigt. Die zeitliche Grenze zwischen altem und jüngerem Mythos ist ungefähr die Zeit des Buddha.
Häufig finden wir in Mythen widersprüchliche Elemente und auch solche, die in krassem Gegensatz zu gängigen Moralvorstellungen stehen. Da sie eine Verarbeitung und Verbildlichung dessen darstellen, was wir in unserer Welt vorfinden, ist das nur natürlich, denn die Welt enthält viele Widersprüche. Wie kann es zum Beispiel sein, dass in einem Mythos eine Mutter die Kinder, die sie geboren hat, wieder verschlingt? Wie kann eine Mutter so grausam sein? „Mutter Natur“ tut genau das, sie schenkt Leben und raubt es wieder, weshalb wir solche Mütter immer wieder in verschiedenen Mythen finden.
Um die Stellung der Mythologie beim Studium buddhistischer Texte zu verstehen, ist ein Schema mit vier Aspekten bei der Exegese sakraler Texte hilfreich, wie es zuerst in der rabbinischen Tradition entwickelt wurde. Folgende Aspekte werden dabei unterschieden:
Die wörtliche Bedeutung des Textes – das ist die Ebene der Übersetzerin.
Die allegorische Ebene, die Ebene der Anspielungen und Assoziationen – hier ist es, wo die mythologischen Elemente ihre Heimat haben.
Die „homiletische“ Ebene, d. h. die moralische Botschaft des Textes – hier liegt die Hauptbotschaft z. B. bei vielen Jātakas, die nicht als wirklich alte Mythen einzuordnen sind.
Die geheimnisvolle, mystische oder auch transzendente Ebene – sie finden wir praktisch in allen buddhistischen Texten in Gestalt des Erwachens, d. h. des Transzendierens der gewöhnlichen Wirklichkeit, auf das die Lehre hinausläuft.
Alle vier Ebenen gemeinsam zu betrachten, erlaubt, einen Text in der Tiefe zu verstehen. Sich nur auf die Ebene der wörtlichen Bedeutung zu beschränken, greift in einigen Fällen zu kurz und wird dem Reichtum der Texte nicht gerecht.
Eine buddhistische Schöpfungsgeschichte
Eins der Suttas, die einen stark mythologischen Charakter haben, ist das Aggañña-Sutta, das ich hier ein wenig näher betrachten möchte. Viele wichtige Punkte werden bereits in Bhante Sujatos Aufsatz behandelt. Was folgt, sind lediglich ein paar Bemerkungen zu Dingen, auf die dieser Aufsatz nicht eingeht.
Zu Beginn des Sutta erfahren wir, dass die Brahmanen laut ihrem eigenen Mythos aus dem Mund Brahmās geboren sind. Das Erste, was der Buddha dieser Behauptung entgegensetzt, ist eine biologische Erklärung von Schwangerschaft und Geburt: Auch die Brahmanen pflanzen sich, wie alle anderen, mittels natürlicher Vorgänge fort.
Aber natürlich will der genannte brahmanische Mythos nicht den Vorgang der Fortpflanzung an sich erklären. Sein Anliegen ist vielmehr, eine Erklärung für die Unterschiede zwischen den Kasten zu liefern und die von den Brahmanen beanspruchte Vormachtstellung zu rechtfertigen.
Eine Rangfolge aufgrund der Abstammung lehnt der Buddha ab. Als Nächstes führt er moralische Grundsätze an und legt auch hier dar, dass es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen den Kasten gibt. In allen Kasten gibt es Menschen, die Gutes tun, und Menschen, die Schlechtes tun, und eine wie auch immer geartete „Reinheit“ bloß aufgrund einer Abstammung kann es nicht geben.
Dennoch setzt der Buddha, wenn er über Kasten spricht, seine eigene, die Kaste der Adligen, an die erste Stelle. Wie ist das nun zu rechtfertigen?
Nun, wenn man genau hinsieht, dann gibt der Buddha zur Begründung nicht einen höheren Wert der Adligen an, sondern er erklärt die Rangfolge in Begriffen von Voraussetzungen und Bedingungen.
Die Adligen werden mit dem Ackerbau assoziiert. Die Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung ist natürlich von fundamentaler Bedeutung. Erst wenn genügend Lebensmittel produziert werden können, dass Menschen auch etwas übrig haben, das sie abgeben können, besteht die Voraussetzung dafür, dass sich eine religiöse Kaste herausbildet, die von Almosen lebt. Somit sind die adligen Landbesitzer nicht wertvollere Menschen als die Brahmanen, aber sie sind die Bedingung dafür, dass die Brahmanen überhaupt existieren können. Sie kommen zuerst, weil sie die Voraussetzung sind. Und mit der weiteren Diversifizierung der Gesellschaft entstehen weitere Kasten.
So finden wir auch bei der Ausbildung der Kasten die gleiche Regel, die sich durch die gesamte Lehre des Buddha zieht: die Regel von Ursachen und ihren Wirkungen. Die Dinge sind bedingt, aus Ursachen entstanden, auf allen Ebenen.
Letztendlich ist die wirklich höchste Kaste natürlich die, deren Angehörige die ganze Idee von Kaste endgültig hinter sich gelassen haben: die erwachten Mönche und Nonnen.
Und nun will ich es Ihnen selbst überlassen, Bhante Sujatos Aufsatz und das Aggaññasutta zu lesen. Vielleicht entdecken Sie ja auch noch Aspekte, die bisher nicht diskutiert wurden.
Sutta-Erkundungen
Die Sutta-Erkundungen sind ein monatliches Online-Format zum Studium der Suttas in einer Gruppe, das sich an die lectio divina aus der alten christlichen Klostertradition anlehnt. Das ermöglicht ein eher meditatives Herangehen an die Suttas.
Die Sutta-Erkundungen finden jeden ersten Freitag im Monat statt. Bei Interesse senden Sie bitte eine Email an dhammaregen@gmail.com. Sie werden dann eine Einladung mit den Zoom-Zugangsdaten erhalten.
Neu auf Dhammaregen
Buddhistische Mythologie
In dieser Rubrik finden Sie verschiedene Aufsätze von Bhante Sujato:
Was ist Mythos, und warum ist er bedeutsam?
Vier außerordentlich dichte Wörter
Mythologie eines kulturellen Transformationsprozesses im Ghaṭīkāra-Sutta
Mahākaccāna und die Ausbreitung der indo-arischen Kultur nach Avanti
Die Schlange Gurrangatch und der Jäger Mirragan (ein australischer Mythos)
Außerdem gibt es Videos und eine Zusammenstellung von Literatur zum Thema.
Seit dem letzten Newsletter wurden folgende Suttas hinzugefügt:
DN 27
SN 21.1-7 und 9-12, SN 22.1-79, SN 35.132, SN 40
Übersicht über alle Übersetzungen
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